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wie sie langsam im jetzt wieder dunklen Wasser des Sees versank. Kurz darauf trafen die Rettungshubschrauber ein. Sie fanden nur Bobby und fühlten sich betrogen, als er ihnen sagte, dass er nicht in dem Flugzeug gewesen, sondern mit seinem Boot beim Fischen gekentert sei. Jedenfalls wurde er für eine Zeit berühmt, sagte der Erzähler der Geschichte.
»Und lebt er noch in Jackson Tree?«, sagte der andere.
»Nein, ich glaube, er lebt jetzt in Colorado«, war die Antwort.
Anschließend sprachen sie über Sport. Fates Sitznachbar trank sein restliches Wasser aus und rülpste diskret hinter vorgehaltener Hand.
»Lügen«, sagte er leise.
»Wie bitte?«, sagte Fate.
»Lügen, alles Lügen«, sagte der Typ.
»Verstehe«, sagte Fate, wandte sich ab und betrachtete durch das Seitenfenster die Wolken, die wie Kathedralen aussahen oder doch nur wie kleine Spielzeugkirchen, verloren in einem labyrinthischen Marmorbruch, der hundertmal größer war als der Grand Canyon.
In Detroit mietete sich Fate einen Wagen, und nach einem Blick in den Stadtplan, den ihm die Autovermietung mitgegeben hatte, fuhr er in das Viertel, in dem Barry Seaman wohnte.
Er traf ihn nicht zu Hause an, aber ein Junge sagte ihm, Barry sei eigentlich fast immer in Pete's Bar, nicht weit von hier. Das Viertel war offenbar ein Wohnviertel pensionierter Ford- und General-Motors-Mitarbeiter. Er betrachtete die vier- und fünfgeschossigen Gebäude an seinem Weg und sah nur alte Leute, die auf den Stufen saßen oder rauchend in den Fenstern lagen. Hin und wieder traf er auf Grüppchen schnatternder Jungen oder seilhüpfender Mädchen. Die parkenden Autos waren weder besonders gut noch besonders neu, aber sehr gepflegt.
Die Bar lag gegenüber einer Baulücke, wo Gestrüpp und Unkraut den Schutt des Gebäudes überwucherten, das hier einmal gestanden hatte. An der Seitenwand des Nachbarhauses sah er eine merkwürdige Wandmalerei. Sie war rund wie eine Uhr, und wo die Zahlen hätten stehen müssen, befanden sich szenische Darstellungen von Leuten, die in den Detroiter Fabriken arbeiteten. Zwölf Szenen, die zwölf Stationen im Produktionsprozess illustrierten. In allen Szenen tauchte jedoch eine Person immer wieder auf: Ein dürrer, hoch aufgeschossener schwarzer Jugendlicher oder junger Mann, der seiner Kindheit noch nicht entwachsen war oder sich weigerte, ihr zu entwachsen, der in jeder Szene andere, aber immer zu kleine Kleider trug und dessen Rolle offensichtlich darin bestand, den Clown zu spielen, den, der dafür zuständig ist, uns zum Lachen zu bringen, obwohl man bei genauem Hinsehen erkennen konnte, dass er nicht nur dafür da war, uns zum Lachen zu bringen. Es sah aus wie das Werk eines Verrückten. Das letzte Gemälde eines Verrückten. Im Mittelpunkt der Uhr, wo alle Szenen zusammenliefen, stand ein Wort, gemalt mit Buchstaben, die an Gelatine erinnerten: Angst.
»Sicher irgendein Bursche aus der Nachbarschaft«, brummte er.
Fate betrat die Bar. Er setzte sich an den Tresen und fragte den Typ, der den Laden schmiss, von welchem Künstler das Wandgemälde stamme. Der Barkeeper, ein schwergewichtiger Schwarzer um die sechzig mit einem von Narben zerfurchten Gesicht, wusste es nicht.
Fate bestellte ein Bier und sah sich in der Bar um. Er konnte Seaman unter den Gästen nicht erkennen. Mit dem Bier in der Hand fragte er laut, ob jemand Seaman kenne.
»Wer sucht nach ihm«, sagte ein ziemlich kleiner Typ, der ein Detroit-Pistons-Trikot und eine hellblaue Jeansjacke trug.
»Óscar Fate«, sagte Fate, »von der Schwarzen Morgenröte aus New York.«
Der Barkeeper beugte sich vor und fragte, ob er wirklich Journalist sei. Bin ich. Vom Schwarzen Morgen.
»Deine Zeitung, Bruder«, sagte der Kleine, ohne vom Tisch auf- zustehen, »hat einen total beschissenen Namen.« Die beiden Kerle, mit denen er Karten spielte, lachten. »Mir persönlich hängen die ständigen Morgenröten zum Hals raus«, sagte der Kleine, »ich hätte nichts dagegen, wenn ihr Brüder in New York mal was mit Dämmerung zustande brächtet, das ist die beste Tageszeit, zumindest in dieser Scheißgegend hier.«
»Richte ich aus, wenn ich zurück bin. Ich schreibe nur Reportagen«, sagte er.
»Barry Seaman war heute noch nicht da«, sagte ein alter Mann, der wie er am Tresen saß.
»Ich glaube, er ist krank«, sagte ein anderer.
»Stimmt, ich habe auch so was gehört«, sagte der Alte am Tresen.
»Ich werde ein Weilchen auf ihn warten«, sagte Fate und trank sein Bier
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