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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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kleinen Koffer in der Hand.
    »Wie kommen wir aus dem Haus?«, wollte Fate wissen.
    »Durch die Haustür«, sagte Amalfitano.
    Dann sah Fate wie in einem Film, den er nicht ganz verstand, aber der ihn sonderbarerweise an den Tod seiner Mutter denken ließ, wie Amalfitano seine Tochter küsste und umarmte, und danach sah er ihn das Haus verlassen und entschlossen Richtung Straße gehen. Erst sah er ihn den Hof durchqueren, dann sah er ihn das Holztor öffnen, das einen neuen Anstrich gut gebrauchen könnte, dann sah er ihn barfuß und ungekämmt über die Straße auf den schwarzen Peregrino zugehen. Als er dort ankam, kurbelte der Typ die Scheibe herunter, und sie sprachen miteinander, Amalfitano auf der Straße und der Jüngere in seinem Wagen. Sie kennen sich, dachte Fate, sie reden nicht zum ersten Mal miteinander.
    »Es ist so weit, gehen wir«, sagte Rosa.
    Fate folgte ihr. Sie gingen durch den Garten und über die Straße, und ihre Körper warfen einen extrem dünnen Schatten, der alle fünf Sekunden von einem Beben erschüttert wurde, als würde die Sonne plötzlich rückwärts laufen. Beim Einsteigen glaubte Fate hinter sich ein Lachen zu hören und drehte sich um, sah aber nur Amalfitano und den jungen Typen, die noch genau wie vorhin miteinander sprachen.
    In weniger als einer halben Minute hatten sich Guadalupe Roncal und Rosa Amalfitano über ihre jeweiligen Nöte ausgetauscht. Die Journalistin erbot sich, sie nach Tucson zu begleiten. Rosa sagte, man müsse nicht übertreiben. Sie beratschlagten eine Weile. Während sie sich auf Spanisch unterhielten, sah Fate aus dem Fenster, aber rund um das Sonora Resort wirkte alles normal. Journalisten waren keine mehr da, niemand sprach mehr über Boxkämpfe, die Kellner schienen aus langer Lethargie erwacht, und als wäre es kein angenehmes Erwachen gewesen, waren sie jetzt weniger liebenswürdig. Vom Hotel aus rief Rosa ihren Vater an. Fate sah sie in Begleitung von Guadalupe Roncal in Richtung Rezeption verschwinden, und während er auf ihre Rückkehr wartete, rauchte er eine Zigarette und machte sich Notizen für seinen Bericht, den er noch nicht geschickt hatte. Bei Licht besehen, wirkten die Ereignisse der letzten Nacht irreal, wie mit kindlichem Ernst überzogen. In Gedanken sah er Omar Abdul und García, die beiden Sparringspartner. Er stellte sich vor, wie sie im Bus an die Küste fuhren. Er sah, wie sie aus dem Bus stiegen, sah sie zwischen Büschen ein paar Meter durch den Sand gehen. Der Traumwind trug Sandkörner heran, die an den Gesichtern haftenblieben. Ein Bad in Gold. Wie friedlich, dachte Fate. Wie einfach alles ist. Dann sah er den Bus und stellte ihn sich schwarz vor, wie einen riesigen Leichenwagen. Er sah Abduls arrogantes Lächeln, Garcías stoische Mine, seine merkwürdigen Tätowierungen, und hörte das plötzliche Geräusch zerberstender Teller, nicht vieler, oder das Scheppern zu Boden fallender Dosen; da erst merkte Fate, dass er kurz davor war, einzuschlafen, und hielt nach einem Kellner Ausschau, um sich noch einen Kaffee zu bestellen, sah aber keinen. Guadalupe Roncal und Rosa Amalfitano telefonierten noch immer.
    »Die Leute sind nett, sympathisch, gastfreundlich; die Mexikaner sind ein fleißiges Volk, sie interessieren sich sehr für alles, sie machen sich Gedanken um andere, sie haben Courage und sind großzügig, ihre Traurigkeit ist nicht lebensfeindlich, sondern lebensbejahend«, sagte Rosa Amalfitano, als sie die Grenze zu den Vereinigten Staaten passierten.
    »Wirst du sie vermissen?«, fragte Fate.
    »Ich werde meinen Vater vermissen und ich werde die Menschen vermissen«, sagte Rosa.
    Als sie zur Strafanstalt von Santa Teresa fuhren, sagte Rosa, dass zu Hause bei ihrem Vater niemand ans Telefon gehe. Nach mehreren vergeblichen Anrufen bei Amalfitano hatte sie es bei Rosa Méndez versucht, aber auch dort nahm niemand ab. Ich glaube, dass Rosa tot ist, sagte sie. Fate schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht recht glauben.
    »Noch leben wir«, sagte er.
    »Wir leben noch, weil wir nichts gesehen haben und nichts wissen«, sagte Rosa.
    Der Wagen der Journalistin fuhr voraus. Es war ein gelber Little Nemo. Guadalupe Roncal fuhr vorsichtig, hielt aber von Zeit zu Zeit an, als erinnerte sie sich nicht genau an den Weg. Fate überlegte, ob es nicht das Beste wäre, ihr nicht länger zu folgen und sofort in Richtung Grenze zu fahren. Als er das Rosa vorschlug, war sie kategorisch dagegen. Er fragte sie, ob sie Freunde in der

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