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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Er dachte an den Schnurrbärtigen, der als Letzter dazugestoßen war und kein Wort sagte, und dann erinnerte er sich an seine Stimme, als sie flohen, schrill wie die eines Vogels. Als er es müde war zu stehen, zog er sich einen Stuhl ans Fenster und sah weiter hinaus. Er dachte kurz an die Wohnung seiner Mutter und erinnerte sich an betonierte Höfe mit schreienden und spielenden Kindern. Wenn er die Augen schloss, konnte er ein weißes Kleid sehen, unter das in den Straßen von Harlem der Wind fuhr, während das unbezwingbare Gelächter über die Häuserwände tollte und die Bürgersteige entlanglief, munter und ungezwungen wie das weiße Kleid. Er spürte, wie ihm die Müdigkeit in die Ohren kroch oder aus seiner Brust emporstieg. Aber er wollte nicht die Augen schließen und beobachtete lieber weiter den Hof, die beiden Laternen, die die Fassade des Motels beleuchteten, die Schatten, die die Lichtgarben der Autos wie Kometenschweife in der dunklen Umgebung aufwarfen.
    Manchmal wandte er den Kopf und betrachtete kurz die schlafende Rosa. Beim dritten oder vierten Mal aber begriff er, dass er sich nicht umdrehen musste. Es war einfach nicht mehr nötig. Eine Sekunde lang dachte er, er werde nie wieder Müdigkeit empfinden. Plötzlich, während er gerade der roten Leuchtspur zweier Lastwagen folgte, die sich ein Wettrennen zu liefern schienen, klingelte das Telefon. Als er abnahm, hörte er die Stimme des Rezeptionisten und wusste im selben Moment, dass er darauf die ganze Zeit gewartet hatte.
    »Señor Fate«, sagte der Rezeptionist, »man hat mich gerade angerufen und gefragt, ob Sie noch hier wohnen.«
    Er fragte, wer der Anrufer war.
    »Ein Polizist, Señor Fate«, sagte der Rezeptionist.
    »Ein Polizist? Ein mexikanischer Polizist?«
    »Ich habe gerade mit ihm gesprochen. Er wollte wissen, ob Sie bei uns Gast waren.«
    »Und? Was hast du ihm gesagt?« fragte Fate.
    »Die Wahrheit, dass Sie hier waren, aber schon abgereist sind«, sagte der Rezeptionist.
    »Danke«, sagte Fate und legte auf.
    Er weckte Rosa und sagte, sie solle sich ihre Schuhe anziehen. Er suchte die wenigen Sachen zusammen, die er ausgepackt hatte, und brachte den Koffer ins Auto. Draußen war es kalt. Als er wieder ins Zimmer trat, kämmte Rosa sich im Bad die Haare, und Fate sagte ihr, dafür hätten sie jetzt keine Zeit. Sie stiegen ins Auto und rollten zur Rezeption. Der Rezeptionist war aufgestanden und putzte mit einem Hemdzipfel seine dicke Brille. Fate schob ihm über den Tresen eine Fünfzigdollarnote zu.
    »Wenn sie kommen, sag ihnen, ich sei zurück in die Staaten gefahren«, sagte er.
    »Sie werden kommen«, sagte der Rezeptionist.
    Als sie auf die Straße einbogen, fragte er Rosa, ob sie ihren Pass dabeihabe.
    »Natürlich nicht«, sagte Rosa.
    »Die Polizei sucht nach mir«, sagte Fate und erzählte ihr, was der Mann an der Rezeption gesagt hatte.
    »Warum bist du so sicher, dass es die Polizei war?«, fragte Rosa. »Vielleicht war es Corona, vielleicht Chucho.«
    »Ja«, sagte Fate, »vielleicht war es Charly Cruz, vielleicht auch Rosita Méndez, die ihre Stimme verstellt hat, aber ich habe nicht vor hierzubleiben, um es herauszufinden.«
    Sie fuhren die Straße einmal auf und ab, um festzustellen, ob ihnen jemand auflauerte, aber alles war ruhig (eine quecksilbrige Ruhe oder eine, die einen Vorgeschmack auf ein quecksilbriges Morgengrauen an der Grenze gab), und als sie zum zweiten Mal zurückkamen, parkten sie den Wagen unter einem Baum auf der gegenüberliegenden Seite. Eine Weile blieben sie noch im Wagen sitzen und achteten auf jedes Zeichen, jede Bewegung. Beim Überqueren der Straße vermieden sie es, ins Licht der Scheinwerfer zu geraten. Dann sprangen sie über den Zaun und liefen direkt zur Rückseite des Hauses. Während Rosa nach dem Schlüssel suchte, entdeckte Fate das Geometriebuch, das an einer der Wäscheleinen hing. Unwillkürlich berührte er es mit den Fingerspitzen. Ohne wirkliches Interesse, nur um Anspannung abzubauen, fragte er Rosa, was der Titel Geometrisches Testament bedeute, und Rosa übersetzte ihn kommentarlos ins Englische.
    »Seltsam, dass jemand ein Buch aufhängt, als wäre es ein Hemd«, flüsterte er.
    »Eigenheiten meines Vaters.«
    Das Haus, obwohl von Vater und Tochter gemeinsam bewohnt, hatte eine entschieden weibliche Note. Es roch nach Weihrauch und blondem Tabak. Rosa machte Licht, und für eine Weile sanken sie in die Sessel, auf denen bunte mexikanische Decken lagen, schweigend. Dann

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