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als hätte er gerade etwas ausgefressen, als er auf Deutsch das Lied des verirrten Holzfällers sang, und der alle aus intelligenten, spöttischen Augen ansah. Der Gefängniswärter fragte Guadalupe Roncal, ob er ihn lieber mit Handschellen an den Stuhl fesseln solle. Guadalupe Roncal schüttelte den Kopf, und der Wärter klopfte dem Riesen auf die Schulter und ging, und auch der Gefängnisbeamte, der neben Fate und den Frauen stand, ging hinaus, nicht ohne vorher noch Guadalupe Roncal etwas ins Ohr zu flüstern, dann waren sie allein.
»Guten Tag«, sagte der Riese auf Spanisch. Er setzte sich und streckte die Beine aus, bis die Füße auf der anderen Seite des Tisches wieder zum Vorschein kamen.
Er trug schwarze Sportschuhe und weiße Socken. Guadalupe Roncal wich einen Schritt zurück.
»Fragen Sie, was Sie wollen«, sagte der Riese.
Guadalupe Roncal hob eine Hand zum Mund, als würde sie ein giftiges Gas einatmen, und wusste nicht, was sie fragen sollte.
Der Teil von den Verbrechen
Die Tote lag auf einer kleinen Brache in der Siedlung Las Flores. Sie trug ein weißes, langärmliges Hemd und einen gelben, knielangen Rock höherer Konfektionsgröße. Spielende Kinder hatten sie gefunden und ihre Eltern benachrichtigt. Eine der Mütter verständigte die Polizei, die eine halbe Stunde später eintraf. Die Brache grenzte an die Straßen Peláez und Hermanos Chacón und reichte bis zu einem Abwassergraben, hinter dem sich die Mauern einer verlassenen und schon verfallenen Molkerei erhoben. Die Straße war menschenleer, weshalb die Polizisten zuerst dachten, jemand habe sich einen Scherz erlaubt. Dennoch parkten sie ihren Streifenwagen in der Calle Peláez, und einer der Beamten sah sich auf der Brachfläche um. Nach kurzer Zeit entdeckte er zwei Frauen, die mit verhüllten Köpfen betend zwischen den Sträuchern knieten. Von weitem sahen sie aus wie alte Frauen, aber das täuschte. Vor ihnen lag die Leiche. Ohne sie zu stören, machte der Polizist auf demselben Weg kehrt und winkte seinen Kollegen heran, der rauchend im Wagen auf ihn wartete. Dann gingen beide (der aus dem Auto mit gezückter Pistole) wieder zurück zu den Frauen, blieben neben ihnen stehen und betrachteten die Leiche. Der mit der gezückten Pistole fragte, ob sie die Tote kennen würden. Nein, Señor, sagte die eine. Wir haben sie noch nie gesehen. Die ist nicht von hier.
Das geschah 1993. Januar 1993. Seit diesem Vorfall begann man, die Frauenmorde zu zählen. Vermutlich hatte es schon vorher Morde gegeben. Die erste Tote hieß Esperanza Gómez Saldaña und war dreizehn Jahre alt. Vermutlich war sie nicht die Erste. Vielleicht aus Bequemlichkeit, weil sie das erste Mordopfer des Jahres 1993 war, führt sie die Liste an. Obwohl sicherlich bereits 1992 Frauen ermordet wurden. Frauen, die nicht auf die Liste kamen oder die nie gefunden wurden, die man anonym in der Wüste verscharrt oder deren Asche man in tiefer Nacht verstreut hatte, wenn nicht einmal der, der sie verstreut, weiß, wo genau er sich befindet.
Die Identifizierung von Esperanza Gómez Saldaña war relativ einfach. Der Leichnam wurde zunächst in eines der drei Kommissariate von Santa Teresa gebracht, wo er von einem Untersuchungsrichter in Augenschein genommen und von Polizeibeamten begutachtet und fotografiert wurde. Wenig später, während vor dem Kommissariat ein Krankenwagen wartete, traf der Polizeichef Pedro Negrete in Begleitung zweier Adjutanten ein und untersuchte die Leiche erneut. Anschließend zog er sich mit dem Richter und drei Beamten in ein Büro zurück und fragte, zu welchen Schlussfolgerungen sie gelangt seien. Sie wurde erwürgt, sagte der Richter, das ist sonnenklar. Die Polizisten nickten schweigend. Weiß man, wer sie ist?, fragte der Polizeichef. Alle schüttelten den Kopf. Gut, das kriegen wir raus, sagte Pedro Negrete und verließ zusammen mit dem Richter das Kommissariat. Einer der Adjutanten blieb da und befahl, ihm die Polizisten zu bringen, die die Tote aufgefunden hatten. Sie fahren schon wieder Streife, sagte einer. Dann bringt sie her, wenn sie zurück sind, ihr Schwachköpfe. Inzwischen wurde die Tote in die Leichenhalle des städtischen Krankenhauses gebracht und dort vom Gerichtsmediziner obduziert. Seinem Bericht zufolge war Esperanza Gómez Saldaña erwürgt worden. Sie zeigte Hämatome am Kinn und am linken Auge. Starke Hämatome an Oberschenkeln und Brustkorb. Sie war vaginal und anal vergewaltigt worden, wahrscheinlich mehrfach, da sich in
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