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war schwanger. Vielleicht befand sie sich auf dem Weg zu ihrem Ehemann oder Freund, dem Vater ihres Kindes, der auf sie wartete, oder zu irgendeinem armen Teufel, der illegal in den Vereinigten Staaten lebte und nie erfahren würde, dass er sie geschwängert hatte oder dass sie sich, als sie davon erfuhr, auf die Suche nach ihm gemacht hatte. Aber die erste Tote blieb nicht die einzige Tote. Drei Tage später starb Guadalupe Rojas (die umgehend identifiziert werden konnte), sechsundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in der Calle Jazmín, einer Parallelstraße zur Avenida Carranza, in der Siedlung Carranza, und Arbeiterin in der Maquiladora File-Sis, die vor kurzem an der Hauptstraße nach Nogales, rund zehn Kilometer außerhalb von Santa Teresa, ihre Tore geöffnet hatte. Guadalupe Rajas starb übrigens nicht auf dem Weg zur Arbeit, was verständlich gewesen wäre, da die Strecke einsam und gefährlich und besser im Auto zurückzulegen war als mit dem Bus und dann zu Fuß, von der letzten Haltestelle noch anderthalb Kilometer, sondern vor ihrem Haus in der Calle Jazmín. Todesursache waren drei Schussverletzungen, zwei davon unmittelbar tödlich. Wie sich herausstellte, war der Mörder ihr Verlobter, der noch in derselben Nacht zu fliehen versuchte und an der Bahntrasse unweit eines Nachtlokals namens Los Zancudos gefasst wurde, wo er sich zuvor betrunken hatte. Den Hinweis bekam die Polizei vom Besitzer des Lokals, einem ehemaligen städtischen Polizeibeamten. Das Verhör ergab als Tatmotiv eine begründete oder unbegründete Eifersucht des Täters, der daraufhin dem Haftrichter vorgeführt und, weil alles zusammenpasste, ohne weiteren Verzug in das Gefängnis von Santa Teresa überstellt wurde, wo er seine Verlegung oder seinen Prozess abzuwarten hatte. Die letzte Tote des Monats Mai fand man an den Hängen des Cerro Estrella, der der Siedlung ihren Namen gegeben hatte, die sich in unregelmäßiger Form um ihn herumzog, als könne dort so leicht nichts entstehen oder sich ausdehnen. Nur die östliche Flanke des Berges erhob sich über einer mehr oder weniger unbebauten Landschaft. Und dort fand man sie. Dem Gerichtsmediziner zufolge war sie erstochen worden. Sie zeigte die untrüglichen Spuren von Vergewaltigung. Ihr Alter schätzte man auf fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig, sie hatte weiße Haut und helles Haar, trug Jeans, ein blaues Hemd und Sportschuhe der Marke Nike. Sie führte nichts bei sich, das Aufschluss über ihre Identität geben konnte. Der Mörder hatte sich die Mühe gemacht, sie wieder anzuziehen, weder Hose noch Hemd wiesen Einstichlöcher auf. Hinweise auf eine anale Vergewaltigung gab es keine. In ihrem Gesicht fand sich nur ein leichter Bluterguss oberhalb des Unterkiefers nahe dem rechten Ohr. In den folgenden Tagen veröffentlichten sowohl El Heraldo del Norte wie La Tribuna de Santa Teresa und La Voz de Sonora, die drei örtlichen Tageszeitungen, Fotos der Unbekannten vom Cerro Estrella, aber niemand meldete sich, um sie zu identifizieren. Am vierten Tag, nachdem man sie gefunden hatte, fuhr der Polizeichef von Santa Teresa, Pedro Negrete, persönlich zum Cerro Estrella, ohne dass irgendein Beamter ihn begleitete, nicht einmal Epifanio Galindo, und sah sich an der Fundstelle um. Dann wandte er sich der Bergkuppe zu und stieg bis auf den höchsten Punkt. Zwischen Vulkangestein lagen Einkaufstüten voller Müll herum. Er musste daran denken, dass sein Sohn, der in Phoenix studierte, ihm einmal erzählt hatte, dass es Hunderte, vielleicht Tausende von Jahren dauern konnte, bis Plastiktüten verrotteten. Bei denen jedenfalls nicht, dachte er mit Blick auf den Verwesungszustand, in dem sich hier alles befand. Oben angekommen sah er ein paar Kinder, die davonstoben und bergab in Richtung Siedlung Estrella verschwanden. Es wurde dunkel. Nach Westen zu sah er Häuserdächer aus Pappe oder Wellblech. Straßen, die sich durch ein anarchisches Gelände schlängelten. Nach Osten zu sah er die Hauptstraße, die in die Berge und in die Wüste führte, sah die Lichter der Lkws, die ersten Sterne, wirkliche Sterne, die mit der Nacht von jenseits der Berge heraufzogen. Nach Norden zu sah er nichts, nur eine große öde Ebene, als würde hinter Santa Teresa das Leben enden, all ihren Sehnsüchten und aller Zuversicht zum Trotz. Dann hörte er Hunde bellen, immer näher, bis er sie sah. Wahrscheinlich waren sie hungrig und wild, wie die Kinder, die er bei seiner Ankunft kurz gesehen hatte. Er zog die Pistole aus
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