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von einem festen Lebensgefährten war nichts bekannt, obwohl eine Nachbarin einen gewissen Ivan erwähnte, der häufig bei ihr aufgekreuzt sei, bei späteren Nachforschungen aber nicht zu ermitteln war. Auch wurde versucht, den Scherenschleifer ausfindig zu machen, der Nicanor hieß, wie Bewohner der Siedlungen Ciudad Nueva und Morelos bezeugten, in denen er ungefähr einmal in der Woche oder einmal alle vierzehn Tage vorbeikam, aber alle Bemühungen blieben vergeblich. Entweder hatte er den Beruf gewechselt oder er war aus dem Westen von Santa Teresa in die südlichen oder östlichen Teile der Stadt abgewandert. Jedenfalls sah man ihn nie wieder.
Einen Monat später, im Mai, wurde auf einer Müllhalde zwischen der Siedlung Las Flores und dem Industriepark General Sepúlveda eine Tote gefunden. Auf dem Gelände standen die Fabrikgebäude von vier Maquiladoras, in denen Haushaltsgeräte montiert wurden. Die Strommasten, die die Maquiladoras versorgten, waren neu und silbern gestrichen. Daneben lugten zwischen niedrigen Hügeln die Dächer der Baracken hervor, die kurz vor Ansiedlung der Maquiladoras hier errichtet worden waren und sich bis jenseits der Bahntrasse erstreckten, der Grenze zur Siedlung La Preciada. Auf dem Hauptplatz standen sechs Bäume, einer in jeder Ecke und in der Mitte zwei, die so von Staub bedeckt waren, dass sie ganz gelb aussahen. Am oberen Ende des Platzes befand sich die Haltestelle für die Busse, in denen die Arbeiter aus verschiedenen Teilen der Stadt angekarrt wurden. Von hier aus mussten sie noch ein gutes Stück auf unbefestigten Straßen bis zu den Fabriktoren laufen, wo Wachleute ihre Ausweise kontrollierten, bevor jeder sich an seinen Arbeitsplatz begeben konnte. Nur in einer der Maquiladoras gab es für die Arbeiter eine Kantine. In den anderen aßen die Arbeiter neben ihren Maschinen oder setzten sich zusammen in irgendeine Ecke. Dort unterhielten sie sich und lachten, bis eine Sirene das Ende der Mittagspause verkündete. Die meisten Beschäftigten waren Frauen. Auf der Müllkippe, wo man die Tote fand, sammelten sich nicht nur die Abfälle der Barackenbewohner, sondern auch die von allen vier Maquiladoras. Die Polizei benachrichtigt hatte der Werkmeister einer der Fabriken, der Multizone West, die für einen multinationalen Fernsehgerätehersteller produzierte. Die Polizisten, die wegen der Toten kamen, wurden am Rand der Müllkippe von drei leitenden Angestellten der Maquiladora empfangen. Zwei von ihnen waren Mexikaner, einer US-Amerikaner. Einer der Mexikaner sagte, dass man dankbar wäre, wenn die Leiche so bald wie möglich abgeholt würde. Ein Polizist fragte, wo die Tote liege, während sein Kollege einen Krankenwagen rief. Die drei Firmenvertreter geleiteten den Polizisten auf das Gelände der Müllhalde. Alle vier hielten sich die Nase zu, aber als der US-Amerikaner die Hand von der Nase nahm, folgten die anderen seinem Beispiel. Die Tote war eine dunkelhäutige Frau mit schwarzen, glatten, etwas mehr als schulterlangen Haaren. Sie trug einen schwarzen Sweater und kurze Hosen. Die vier Männer standen da und betrachteten sie. Der US-Amerikaner kniete sich hin und hob mit einem Kugelschreiber das Haar von ihrem Hals. Der Gringo solle die Tote besser nicht anfassen, sagte der Polizist. Ich fasse sie nicht an, erwiderte der US-Amerikaner auf Spanisch, ich will mir nur ihren Hals ansehen. Die beiden Mexikaner beugten sich zu ihm herunter und betrachteten die Male am Hals der Toten. Dann richteten sie sich auf und schauten auf die Uhr. Der Krankenwagen lässt auf sich warten, sagte der eine. Er kommt jeden Moment, sagte der Polizist. Gut, sagte einer der Firmenvertreter, Sie kümmern sich um die Sache, habe ich recht? Ja, sagte der Polizist, natürlich, und steckte die Scheine, die der Mann ihm reichte, in die Tasche seiner Uniformhose. Die Nacht verbrachte die Tote in einem Kühlfach des Krankenhauses von Santa Teresa und wurde am nächsten Tag vom Assistenten des Gerichtsmediziners obduziert. Man hatte sie erwürgt. Man hatte sie vergewaltigt. Vaginal und anal, notierte der Assistent des Gerichtsmediziners. Und sie war im fünften Monat schwanger.
Die erste Tote des Monats Mai konnte nie identifiziert werden, weshalb man annahm, es handele sich um eine Migrantin aus Mittel- oder Südamerika, die vor der Weiterreise in die Vereinigten Staaten in Santa Teresa haltgemacht hatte. Niemand hatte sie begleitet, niemand vermisste sie. Sie war ungefähr fünfunddreißig, und sie
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