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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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sie. Die Schlüssel fielen ihr aus der Hand. Ein Passant in fünf Meter Entfernung warf sich auf den Boden. Isabel versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr nur, den Kopf an den Vorderreifen zu lehnen. Sie spürte keinen Schmerz. Der Schatten kam auf sie zu und schoss ihr eine Kugel in die Stirn.
    Der Mord an Isabel Urrea, über den ihr Radiosender und die gleichnamige Tageszeitung drei Tage lang berichteten, wurde als vereitelter Raubüberfall eingestuft, begangen von einem Verrückten oder einem Drogensüchtigen, der es wohl auf ihr Auto abgesehen hatte. Auch kursierte die Theorie, der Täter sei ein Mittelamerikaner, ein Guatemalteke oder Salvadorianer, ein Veteran der dortigen Bürgerkriege, der mit allen Mitteln an Geld zu kommen versuchte, bevor er sich in die Vereinigten Staaten absetzte. Aus Rücksicht auf ihre Familie wurde keine Autopsie vorgenommen, auch der ballistische Befund wurde nie bekannt und ging beim Hin und Her zwischen den Staatsanwaltschaften von Hermosillo und Santa Teresa irgendwann verloren.
    Einen Monat später sah ein Scherenschleifer, der die Calle El Arroyo auf der Grenze zwischen den Siedlungen Ciudad Nueva und Morelos entlanglief, eine Frau, die sich an einen Holzpfosten klammerte, als wäre sie betrunken. Ein schwarzer Peregrino mit getönten Scheiben fuhr dicht am Scherenschleifer vorbei. Vom anderen Ende der Straße her sah er in einer Wolke von Fliegen den Eisverkäufer auf sich zukommen. Am Holzpfosten trafen sie zusammen, nur war die Frau inzwischen abgerutscht oder hatte keine Kraft mehr, sich festzuhalten. Ihr vom Unterarm halbverdecktes Gesicht war eine einzige Masse aus rotem und violettem Fleisch. Der Scherenschleifer sagte, man müsse einen Krankenwagen rufen. Der Eisverkäufer betrachtete die Frau und sagte, sie sehe aus, als hätte sie fünfzehn Runden mit El Torito Ramírez hinter sich. Der Scherenschleifer sah ein, dass der Eisverkäufer sich nicht von der Stelle rühren würde, und sagte, er solle auf sein Wägelchen aufpassen, er sei gleich wieder da. Als er die staubige Straße überquert hatte, wandte er noch einmal den Kopf, um sich zu vergewissern, dass der Eisverkäufer gehorchte, und sah den Schwarm Fliegen, den dieser mitgebracht hatte, jetzt den verwundeten Kopf der Frau umschwirren. Auf der anderen Straßenseite standen einige Frauen am Fenster und beobachteten sie. Jemand muss einen Krankenwagen rufen, sagte der Scherenschleifer, die Frau stirbt. Nach einer Weile traf ein Krankenwagen ein, und die Sanitäter wollten wissen, wer die Verantwortung für den Transport übernehme. Der Scherenschleifer erklärte, er und der Eisverkäufer hätten sie am Boden liegend gefunden. Schon klar, sagte der Sanitäter, aber ich muss wissen, wer jetzt für sie verantwortlich ist. Wie soll ich für eine Frau die Verantwortung übernehmen, von der ich nicht mal weiß, wie sie heißt?, sagte der Scherenschleifer. Irgendjemand muss jedenfalls verantwortlich sein, sagte der Sanitäter. Bist du eigentlich taub, du Hornochse, sagte der Scherenschleifer, während er aus einer Kiste seines Wägelchens ein riesiges Tranchiermesser zog. Schon gut, schon gut, sagte der Sanitäter. Ihr packt sie jetzt in den Krankenwagen, und zwar fix, sagte der Scherenschleifer. Der andere Sanitäter, der neben der Frau kniete, sie untersuchte und dabei die Fliegen verscheuchte, sagte, es sei überflüssig, dass sie sich an die Gurgel gingen, die Frau sei bereits tot. Die Augen des Scherenschleifers verengten sich, bis sie aussahen wie zwei mit Kohle gezogene Striche. Du mieses, verschissenes Arschloch, das ist deine Schuld, sagte er und ging auf den Sanitäter los. Sein Kollege wollte eingreifen, aber als er das Messer in der Hand des Scherenschleifers sah, verschanzte er sich lieber im Krankenwagen und benachrichtigte von dort die Polizei. Der Scherenschleifer verfolgte den Sanitäter noch eine Weile, bis Wut, Erbitterung oder Groll nachließen oder er nicht mehr konnte. Als es so weit war, blieb er stehen, schnappte sich sein Wägelchen und lief die Calle El Arroyo hinunter, bis die Schaulustigen, die sich um den Krankenwagen gesammelt hatten, ihn aus den Augen verloren.
    Die Frau hieß Isabel Cansino, war besser bekannt als Elizabeth und arbeitete als Prostituierte. Die Schläge hatten ihr den Arm gebrochen. Die Polizei vermutete hinter dem Verbrechen einen oder mehrere unzufriedene Freier. Gewohnt hatte sie in der Siedlung San Damián, ein gutes Stück südlich von der Stelle, wo man sie fand, und

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