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ein zauberhaftes Kind, über diese Zeit seines Lebens sprach man ja kaum, teils weil man wenig wusste, teils weil die Mexikaner wissen, dass sie meist Stuss oder Peinlichkeiten von sich geben, wenn sie über Kinder reden. Falls es jemand noch nicht wisse, könne sie dazu einiges sagen. Unter den vielen tausend Büchern, die sie gelesen habe - Bücher über mexikanische Geschichte, über spanische Geschichte, über kolumbianische Geschichte, über Religionsgeschichte, über die Geschichte der römischen Päpste, über die Fortschritte der NASA -, fanden sich nur ganz wenige, die völlig wahrheitsgetreu, absolut wahrheitsgetreu schilderten, was das Kind Benito Juárez nicht so sehr gedacht als gefühlt haben musste, wenn es zuweilen, was gar nicht so selten vorkam, mehrere Tage und Nächte lang auf der Suche nach Weideplätzen für die Herde unterwegs war. Auf den Seiten eines Buchs mit gelbem Umschlag stand alles in so klaren Worten, dass Florita Almada manchmal dachte, der Autor sei mit Benito Juárez befreundet gewesen, und dieser habe jenem seine Kindheitserinnerungen zugeflüstert. Sofern das möglich ist. Sofern es möglich ist, mitzuteilen, was man fühlt, wenn die Nacht hereinbricht, die Sterne aufgehen und man in der Unermesslichkeit ganz allein ist und dann die Wahrheiten des Lebens (des nächtlichen Lebens) eine nach der anderen vorüberziehen, wie in Luft aufgelöst, oder als würde der, der da unter freiem Himmel sitzt, sich in Luft auflösen, oder als würde eine unbekannte Krankheit in unseren Adern kreisen und wir hätten es nicht gemerkt. Was tust du, stiller Mond, am Himmelsrund?* fragt sich der Hirtenjunge im Gedicht. O sag mir, was du tust? Bist du nicht müde schon, die ewigen Wege immer neu zu gehen? Des Hirten Leben gleicht gar deinem Leben sehr. Er muss sich früh erheben; dann treibt er seine Herde durch die Felder. Und abends werden seine Augen schwer: sonst hofft er gar nichts mehr. Mond, sag mir: was vergilt dem Hirten solch ein Leben, und euer Leben euch? Sag mir,* sagt der Hirte, sagte Florita Almada mit entrückter Stimme, wohin mein kurzes Schweifen hier, dein ewiges Kreisen zielt? In Mühen wird geboren der Mensch, bei der Geburt schon droht ihm Tod,* hieß es im Gedicht. Und weiter: Doch warum nur gebären wir Kinder, warum nähren wir Kinder, wenn wir sie hernach, des Lebens willen, trösten müssen?* Und weiter: Ist Leben nichts als Trauer, was leihen wir ihm Dauer?* Und weiter: O Mond, in Schmerz und Klage vergehn des Menschen Tage. Du aber bist nicht sterblich, und wenig kümmert dich wohl, was ich sage.* Und widersprüchlich weiter: Doch du, einsamer, ewiger Wanderer, gedankenvoller, du, vielleicht, verstehst das Leben hier auf Erden, verstehst das Leid, das Seufzen, was es sei; was dieses Sterben sei, dies allerletzte Erbleichen des Gesichts, das Schwinden von der Erde, fremd zu werden den lieben Freunden, die uns lang begleitet.* Und weiter: Was soll das Lichtgewimmel? die grenzenlose Luft, und dieses tiefe, endlose Blau? was will sie sagen, diese gewaltige Einsamkeit? und: was bin ich?* Und weiter: Dies ist mir nur bewusst, dass alle ewigen Kreise, dass meine Sterblichkeit, mag sein, für andre Lust und Glück bedeuten.* Und weiter: Mir bleibt nur das Leid.* Und weiter: Ein bleicher Alter, schwach, halbnackt und unbeschuht, auf seinem Rücken Lasten, die ihn würgen, in Tälern und Gebirgen, durch harte Felsen, hohen Sand, Gestrüpp, in Wind, in Sturm, und wenn die Stunde brennt, wenn sie zu Eis gerinnt, rennt er, und rennt wie blind, und keucht durch Ströme, Sümpfe, und fällt, steht wieder auf, und eilt und eilt, und ruht und rastet nicht, zerrissen, blutig: bis am Ziel er endlich des langen Weges ist, wohin so viele Leiden ihn getrieben: am grausen Schlund, in den hinunterstürzend alles er vergisst.* Und weiter: So lebt, o reiner Mond, wer unterm Himmel wohnt. Und weiter: O Herde, die du ruhst, o glücklich du, weil du, glaub ich, dein Elend nicht verstehst! Wie sehr beneid ich dich! Nicht nur, weil schmerzbeladen du nicht durchs Leben gehst; weil Mangel du und Schaden und jeden tiefsten Schrecken schnell vergisst; mehr noch, weil du nie Überdruss empfunden.* Und weiter: Wenn du im Schatten liegst, im Steppengrase, bist still du und zufrieden; so geht auf deinen Pfaden die Zeit dir ohne Überdruss dahin.* Und weiter: Mir will, sitz ich im Steppengras, im Schatten, vor Überdruss ermatten der Geist, und wenn ich raste, quält und sticht ein Sporn das Innere mir.* Und
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