2666
hörte auf zu lachen. Ich sagte, sie solle mir die Judith und Novalis' Werke verkaufen.
›Du kannst sie behalten, jedes Mal, wenn du mich besuchen kommst, kannst du dir zwei Bücher mitnehmen‹, sagte sie, ›aber jetzt, hörst du, geht es um etwas, das wichtiger ist als Literatur. Du musst deinen Namen ändern. Du darfst nie wieder an den Ort deines Verbrechens zurückkehren. Du musst die Kette durchbrechen. Hast du mich verstanden?‹
›So ungefähr‹, sagte ich, obwohl ich in Wirklichkeit nur und mit großer Freude das mit den Büchern verstanden hatte.
Daraufhin sagte die alte Frau, dass meine Mutter lebe und jede Nacht an mich denke und dass meine Schwester lebe und jeden Morgen, jeden Nachmittag und jede Nacht von mir träume und dass meine Schritte wie die Schritte eines Riesen unter der Schädeldecke meiner Schwester widerhallten. Von meinem Vater sagte sie nichts.
Und dann brach der Morgen an und die Alte sagte:
›Ich habe eine Nachtigall singen hören.‹
Und dann befahl sie mir, ihr in ein Zimmer zu folgen, das vollgestopft war mit Kleidungsstücken wie der Laden eines Altkleiderhändlers, wühlte in Bergen von Klamotten, bis sie triumphierend mit einer Lederjacke auftauchte, und sagte:
›Diese Jacke ist für dich, sie hat die ganze Zeit hier auf dich gewartet, seit dem Tod ihres Vorbesitzers.‹
Und ich nahm die Jacke, probierte sie an, und wirklich, sie schien wie für mich gemacht.«
Später hatte Reiter die Frau nach dem Vorbesitzer der Jacke gefragt, aber in diesem Punkt blieben ihre Antworten vage und widersprüchlich.
Mal sagte sie, sie stamme von einem Gestapo-Schergen, ein andermal, sie habe ihrem Verlobten gehört, einem Kommunisten, den man in einem Konzentrationslager ermordet hatte, einmal sagte sie sogar, der Vorbesitzer der Jacke sei ein englischer Spion gewesen, der erste (und einzige) englische Spion, der im Jahre 1941 in der Nähe von Köln mit dem Fallschirm abgesprungen sei, um vor Ort für einen kommenden Aufstand der Kölner Bürger zu sondieren, was diejenigen Kölner, die Gelegenheit hatten, ihm zuzuhören, für Unsinn hielten, denn nach Ansicht der Kölner Bürger und der von ganz Europa war England verloren, und obwohl dieser Spion, so die Hellseherin, kein Engländer, sondern Schotte war, nahm ihn niemand ernst, erst recht nicht, als die wenigen, die ihn zu kennen Gelegenheit hatten, ihn trinken sahen (er trank wie ein Kosak, wenngleich die Haltung, mit der er dem Alkohol begegnete, bewundernswert war, seine Augen wurden trübe und er schielte nach den Beinen der Frauen, aber er bewahrte eine gewisse sprachliche Selbstbeherrschung und kühle Eleganz, worin die anständigen, antifaschistischen Kölner Bürger, die mit ihm verkehrten, den Hinweis auf einen kühnen und waghalsigen Charakter sahen, was seinem Charme keinen Abbruch tat), kurz, 1941 war nicht der geeignete Zeitpunkt für solche Späße.
Reiter erzählte die alte Hellseherin, sie habe den englischen Spion überhaupt nur zweimal gesehen. Beim ersten Mal gewährte sie ihm Unterschlupf in ihrer Wohnung und legte ihm die Karten. Das Glück war auf seiner Seite. Beim zweiten und letzten Mal besorgte sie ihm Kleider und Papiere, denn der Engländer (oder Schotte) kehrte nach England zurück. Bei dieser Gelegenheit ließ der Spion seine Lederjacke zurück. Andere Male jedoch wollte die Alte von einem Spion nichts wissen. Träume, sagte sie, Träumereien, leere Einbildungen, Hirngespinste einer ziemlich verzweifelten alten Frau. Dann fing sie wieder damit an, dass die Lederjacke einem Gestapo-Schergen gehört habe, einem von denen, die es sich zur Aufgabe machten, Deserteure aufzuspüren und zu bestrafen, die Ende 1944, Anfang 1945 in der ehrenwerten Stadt Köln an Boden gewannen (wie man zu sagen pflegt).
Dann verschlechterte sich Ingeborgs Gesundheitszustand, und ein englischer Arzt sagte zu Reiter, das Mädchen, dieses hübsche, zauberhafte Mädchen, werde wahrscheinlich nur noch zwei oder drei Monate leben, wobei er Reiter, der stumm zu weinen anfing, unverwandt anschaute, eigentlich aber weniger Reiter anschaute als mit dem anerkennenden Blick des Kürschners oder Lederers dessen wertvolle Lederjacke, und schließlich fragte er Reiter, dessen Tränen flossen, wo er sie gekauft habe, wo ich was gekauft habe? Die Jacke, ah, in Berlin, log Reiter, vor dem Krieg, in einem Geschäft namens Hahn & Förster, sagte er, worauf der Arzt erwiderte, dass die Kürschner Hahn & Förster oder ihre Erben sich
Weitere Kostenlose Bücher