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ein Kriegsverbrecher war -, vage als ein Mittelding zwischen Nerven- und Lungenleiden diagnostiziert wurde.
Ansonsten verbrachten sie viel Zeit miteinander; mal sprachen sie über völlig abseitige Dingen, mal saß Reiter am Tisch und schrieb in ein Heft mit strohgelbem Umschlag seinen ersten Roman, während Ingeborg auf dem Bett lag und las. Das Putzen besorgte meist Reiter, auch das Einkaufen, und Ingeborg übernahm das Kochen, was sie recht gut konnte. Die Gespräche bei Tisch waren seltsam und arteten manchmal in lange Monologe, Selbstgespräche oder Geständnisse aus.
Sie sprachen über Bücher, über Gedichte Ingeborg fragte Reiter, warum er keine Gedichte schreibe, und Reiter erwiderte, die gesamte Dichtung in all ihren Spielarten sei in einem Roman enthalten oder könne in ihm enthalten sein), über Sex (sie hatten auf jede erdenkliche Art miteinander geschlafen, glaubten sie zumindest, und theoretisierten über neue Möglichkeiten, stießen aber nur auf den Tod) und über den Tod. Wenn der alte Schnitter seinen Auftritt hatte, waren sie in der Regel mit Essen fertig, das Gespräch geriet ins Stocken und Reiter zündete sich wie ein feiner preußischer Herr eine Zigarette an, während Ingeborg ein Messer mit Holzgriff und kurzer Klinge zückte und einen Apfel schälte.
Und: Ihre Stimmen senkten sich dann zu einem Flüstern. Einmal fragte Ingeborg ihn, ob er jemanden getötet habe. Nach kurzem Nachdenken antwortete Reiter, ja. Für einen Moment, der sich über Gebühr in die Länge zog, sah Ingeborg ihn scharf an: Die fleischlosen Lippen, der Rauch, der über die vorspringenden Wangenknochen aufstieg, die blauen Augen, das blonde, nicht sehr saubere Haar, das mal wieder geschnitten werden müsste, die Ohren eines Bauernburschen, die anders als die Ohren markante und aristokratische Nase und Reiters Stirn, über die eine Spinne zu kriechen schien. Noch bis eben hätte sie glauben können, Reiter habe jemanden, irgendjemanden, im Krieg getötet, aber nachdem sie ihn angeschaut hatte, war sie sich sicher, dass er etwas anderes meinte. Sie fragte, wen er getötet habe.
»Einen Deutschen«, sagte Reiter.
Ingeborgs krauser, stets zum Phantasieren aufgelegter Verstand sagte ihr, dass das Opfer niemand anders als Hugo Halder sein könne, der Vormieter ihrer Berliner Wohnung. Als sie ihn das fragte, lachte Reiter. Nein, nein, Hugo Halder sei sein Freund. Dann schwiegen sie lange, und die Reste des Essens schienen auf dem Tisch zu gefrieren. Endlich fragte Ingeborg, ob er Reue empfinde, und Reiter machte eine Geste, die alles bedeuten konnte. Dann sagte er:
»Nein.«
Und fügte nach einer längeren Pause hinzu: Manchmal ja, manchmal nein.
»Hast du sie gekannt?«, flüsterte Ingeborg.
»Wen?«, fragte Reiter, als hätte sie ihn aufgeweckt.
»Die Person, die du getötet hast.«
»Klar habe ich sie gekannt«, sagte Reiter, »sie schlief neben mir, viele Nächte lang, und redete ununterbrochen.«
»War es eine Frau?«, flüsterte Ingeborg.
»Nein, keine Frau«, sagte Reiter und lachte, »ein Mann.«
Ingeborg lachte ebenfalls. Anschließend kam sie auf die Faszination zu sprechen, die Frauenmörder auf manche Frauen ausübten. Der Nimbus, den Frauenmörder zum Beispiel unter Prostituierten genossen oder unter Frauen, deren Liebe keine Grenzen kannte. Reiter hielt solche Frauen für hysterisch. Ingeborg dagegen, die solche Frauen zu kennen behauptete, sah in ihnen Hasardeure, Kartenspielern vergleichbar, die sich vor Tau und Tag in den Kopf schossen, oder Stammgästen auf Pferderennbahnen, die ihrem Leben in billigen Pensionen ein Ende setzten oder in Hotels, die in Gegenden lagen, in denen nur Ganoven und Asiaten unterwegs waren.
»Wenn wir miteinander schlafen«, sagte Ingeborg, »und du mich am Hals packst, habe ich manchmal gedacht, du seist ein Frauenmörder.«
»Ich habe niemals eine Frau umgebracht«, sagte Reiter. »Nicht einmal daran gedacht.«
Erst eine Woche später sprachen sie wieder über die Angelegenheit.
Reiter sagte, es könne sein, dass die amerikanische und auch die deutsche Polizei nach ihm suchten, oder dass sein Name auf einer Liste von Verdächtigen stünde. Der Typ, den er umgebracht habe, sagte er, heiße Sammer und sei ein Judenmörder. Dann war es kein Verbrechen, wollte Ingeborg sagen, aber Reiter ließ sie nicht.
»Passiert ist das alles in einem Kriegsgefangenenlager«, sagte Reiter. »Ich weiß nicht, was Sammer sich dachte, wer ich sei, aber er hörte nicht auf, mir Sachen
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