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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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glaubten, Sperma sei wertvolle Nahrung, ein Konzentrat aus allerlei Vitaminen, das beste Mittel gegen Grippe«, sagte Ingeborg. »In manchen Nächten, wenn ich mich in irgendeiner Ecke des Bahnhofs zum Schlafen zusammenrollte, dachte ich an das Bauernmädchen, das als Erstes auf diese Idee verfallen war, eine absurde Idee, auch wenn einige angesehene Ärzte behaupten, eine Portion Sperma täglich helfe gegen Blutarmut«, sagte Ingeborg. »Aber ich dachte an das Bauernmädchen, an das verzweifelte Mädchen, das durch empirisches Schlussfolgern auf die gleiche Idee gekommen war. Ich stellte mir vor, wie sie staunend vor den Ruinen der stummen Stadt stand und sich eingestand, dass es dieses Bild war, das sie schon immer von der Stadt gehabt hatte. Ich stellte sie mir als fleißiges Mädchen vor, mit einem Lächeln im Gesicht, hilfsbereit, wenn Not am Mann war, außerdem neugierig unterwegs auf Straßen und Plätzen, das Weichbild der Stadt nachzeichnend, in der sie immer hatte leben wollen. Auch malte ich mir in jenen Nächten ihren Tod aus, verursacht durch irgendeine Krankheit, eine Krankheit, die ihr kein allzu langsames und kein allzu rasches Sterben bescherte. Ein gemächliches Sterben, das ihr genug Zeit ließ, vom Schwanzlutschen zu lassen und sich in ihrem eigenen Kokon, ihrem eigenen Schmerz zu verpuppen.«
    »Und wieso glaubst du, dass ein einzelnes Mädchen auf diese Idee gekommen ist und nicht viele gleichzeitig?«, fragte Reiter. »Wieso glaubst du, dass ein Mädchen, ausgerechnet eine Bäuerin, auf diese Idee gekommen ist und nicht ein Schlaumeier, der sich auf diese Weise gratis einen blasen lassen konnte?«
    Eines Morgens schliefen Reiter und Ingeborg miteinander. Das Mädchen fieberte, und ihre Beine unter dem Nachthemd waren in Reiters Augen die schönsten, die er je gesehen hatte. Ingeborg war eben zwanzig, Reiter sechsundzwanzig Jahre alt. Fortan vögelten sie jeden Tag. Reiter machte es am liebsten auf einem Stuhl am Fenster mit Ingeborg auf dem Schoß, und während sie miteinander schliefen, schauten sie sich in die Augen oder auf die Ruinen von Köln. Ingeborg machte es gern im Bett, weinte dabei, warf sich wild herum und kam sechs oder sieben Mal hintereinander, die Beine über Reiters knochigen Schultern, den sie Liebling nannte und mein Geliebter, mein Mann, mein Süßer, Worte, die Reiter peinlich berührten, denn er fand sie allesamt kitschig, und damals hatte er gerade dem Kitsch, der Sentimentalität, der Zärtelei, der Affektiertheit, dem Schwulst, dem Gekünstelten und Kindischen den Krieg erklärt, aber er sagte nichts, weil die Trostlosigkeit, die er in Ingeborgs Augen gewahrte und die auch die Lust nicht völlig auslöschen konnte, ihn lähmte, als wäre er, Reiter, eine Maus, die gerade in die Falle getappt war.
    Natürlich lachten sie auch, wenngleich nicht immer über dasselbe. Reiter fand es zum Beispiel sehr amüsant, dass der brandenburgische Nachbar durch das Loch in der Treppe gefallen war. Ingeborg sagte, der Brandenburger sei ein guter Mensch gewesen, immer mit einem freundlichen Wort auf den Lippen, außerdem müsse sie oft an die Blumen denken, die er ihr geschenkt habe. Daraufhin meinte Reiter, man dürfe sich von den guten Menschen nicht täuschen lassen. Die meisten von ihnen, sagte er, sind Kriegsverbrecher, die es verdienten, an Straßen und Plätzen aufgeknüpft zu werden, ein Bild, das Ingeborg Schauer über den Rücken jagte. Wie konnte ein Mensch, der sich jeden Tag eine Blume besorgte und ins Knopfloch steckte, ein Kriegsverbrecher sein?
    Ingeborgs Heiterkeit dagegen wurde durch scheinbar abstraktere Dinge und Situationen geweckt. Manchmal lachte sie über die Zeichnungen, die die Feuchtigkeit auf den Wänden ihrer Dachkammer hinterließ. Auf dem Kalk oder Putz sah sie lange Lkw-Schlangen aus einer Art Tunnel kommen, den sie aus unerfindlichem Grund den Tunnel der Zeit nannte. Dann wieder lachte sie über die Kakerlaken, die regelmäßig die Wohnung heimsuchten. Oder über die Vögel, die, auf den geschwärzten Dachbalken der höchsten Gebäude sitzend, auf Köln herabschauten. Manchmal lachte sie sogar über ihre eigene Krankheit, eine Krankheit, die keinen Namen hatte (darüber lachte sie am meisten) und von den beiden Ärzten, die sie konsultiert hatte, der eine ein Kunde der Bar, in der Reiter arbeitete, der andere ein alter weißhaariger und weißbärtiger Mann, den Reiter mit Whisky bezahlte, eine Flasche pro Behandlung, und der, Reiter zufolge, vermutlich

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