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zu erzählen. Er war nervös, weil er von der amerikanischen Polizei verhört werden sollte. Vorsichtshalber hatte er seinen Namen gewechselt. Er nannte sich Zeller. Aber ich glaube nicht, dass die amerikanische Polizei Sammer suchte. Sie suchte auch nicht Zeller. Für die Amerikaner waren Sammer und Zeller zwei über jeden Verdacht erhabene deutsche Bürger. Was die Amerikaner suchten, waren Kriegsverbrecher von Format, Leute aus den Vernichtungslagern, SS-Offiziere, hohe Parteibonzen. Und Sammer war nur ein Beamter von untergeordneter Bedeutung. Ich wurde verhört. Man fragte mich, was ich über ihn wisse, ob ich ihn von Feinden unter den Gefangenen habe sprechen hören. Ich sagte, ich wisse nichts, Sammer habe nur von seinem in Kursk gefallenen Sohn und der Migräne seiner Frau gesprochen. Sie sahen sich meine Hände an. Es waren junge Polizisten, und sie wollten nicht zu viel Zeit in einem Kriegsgefangenenlager verlieren. Aber sie waren nicht völlig überzeugt. Sie schrieben sich meinen Namen in ihre Hefte und verhörten mich ein zweites Mal. Sie fragten, ob ich Mitglied der nationalsozialistischen Partei gewesen sei, ob ich viele Nazis kannte, was meine Familie tat und wo sie wohnte. Ich versuchte ehrliche und klare Antworten zu geben. Ich bat sie, mir zu helfen, meine Eltern zu finden. Später leerte sich das Lager bis zur Hälfte, und neue Insassen trafen ein. Ich aber blieb weiter dort. Ein Kamerad sagte mir, die Bewachung werde nur pro forma aufrechterhalten. Die schwarzen Soldaten hatten andere Dinge im Kopf und kümmerten sich nicht vorwiegend um uns. Eines Morgens, als wieder Gefangene verlegt wurden, schmuggelte ich mich dazu und gelangte ohne Probleme hinaus.
Eine Zeitlang trieb es mich durch verschiedene Städte. Ich war in Koblenz. Arbeitete in den wieder in Betrieb genommenen Minen. Hungerte. Hatte den Eindruck, dass Sammers Geist wie ein Schatten an mir klebte. Dachte daran, meinen Namen ebenfalls zu wechseln. Kam schließlich nach Köln und dachte, dass alles, was mir von nun an passieren könnte, mir schon früher passiert ist und dass es unnötig sei, Sammers vergifteten Schatten länger hinter mir herzuziehen. Einmal wurde ich verhaftet. Das geschah nach einer Streiterei in einer Bar. Die MPs kamen und nahmen einige von uns mit auf die Wache. Sie suchten in einer Akte meinen Namen, fanden aber nichts und ließen mich laufen.
In jener Zeit lernte ich eine alte Frau kennen, die in der Bar Zigaretten und Blumen verkaufte. Ich kaufte ihr manchmal ein oder zwei Zigaretten ab und machte ihr nie Schwierigkeiten beim Einlass. Die Frau sagte, sie sei während des Krieges Hellseherin gewesen. Eines Nachts bat sie mich, sie nach Hause zu begleiten. Sie wohnte in der Reginastraße, in einer Wohnung, die groß, aber so vollgestellt war, dass man sich kaum bewegen konnte. Eins der Zimmer sah aus wie das Lager eines Kleidergeschäfts. Dazu gleich mehr. Als wir ankamen, schenkte die Frau zwei Gläser Schnaps ein, setzte sich an den Tisch und holte Karten hervor. Ich werde dir die Karten legen, sagte sie. Ich entdeckte eine Menge Bücher in Kisten. Ich erinnere mich, dass ich eine Gesamtausgabe von Novalis und die Judith von Friedrich Hebbel herausnahm, und während ich in den Büchern blätterte, sagte die Alte, ich hätte einen Mann ermordet usw. Dieselbe Geschichte.
›Ich war Soldat‹, sagte ich.
›Im Krieg bist du mehrmals knapp dem Tod entronnen, das ist hier zu lesen, aber du hast niemanden getötet, was ehrenvoll ist‹, sagte die Alte.
Sieht man mir das so sehr an? dachte ich. Sieht man es mir so sehr an, dass ich ein Mörder bin? Natürlich fühlte ich mich nicht als Mörder.
›Ich rate dir, deinen Namen zu ändern‹, sagte die Alte. ›Hör auf mich. Ich war die Hellseherin vieler SS-Bonzen und weiß, wovon ich rede. Vermeide die typische Täterdummheit in englischen Kriminalromanen.‹
›Wovon sprichst du?‹, fragte ich.
›Von englischen Krimis‹, sagte die Alte, ›von der unwiderstehlichen Versuchung englischer Krimis, die erst die nordamerikanischen, dann die französischen, die deutschen und die Schweizer Krimis angesteckt hat.‹
›Und welche Dummheit wäre das?‹, fragte ich.
›Ein Gesetz‹, sagte die Alte, ›ein Gesetz, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Der Mörder kehrt immer an den Ort seines Verbrechens zurück.‹
Ich lachte.
›Lach nicht‹, sagte die Frau, ›hör auf meine Worte, ich bin einer der wenigen Menschen in Köln, die dich mögen.‹
Ich
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