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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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warum, vielleicht nur, weil er müde war, zuckte Espinoza die Schultern und sagte, das könne man nie wissen.
    »Natürlich weiß man das«, sagte Rebeca mit trauriger Stimme, die er nicht an ihr kannte. »Verlässt du Mexiko?«
    »Irgendwann muss ich zurück«, erwiderte er.
    Bei seiner Rückkehr ins Hotel fand er Pelletier weder auf der Terrasse noch am Schwimmbecken oder in einem der Aufenthaltsräume, in die er sich gewöhnlich zum Lesen zurückzog. Er fragte an der Rezeption, wie lange sein Freund schon fort sei, und man teilte ihm mit, Pelletier habe das Hotel zu keiner Zeit verlassen. Er fuhr hinauf zu seinem Zimmer und klopfte an der Tür, aber niemand antwortete. Er klopfte wieder, lauter und öfter, mit dem gleichen Erfolg. Er sagte dem Mann an der Rezeption, dass er fürchte, seinem Freund könne etwas zugestoßen sein, vielleicht ein Herzinfarkt, und der Mann, der beide kannte, folgte Espinoza hinauf.
    »Es ist sicher nichts Schlimmes passiert«, sagte er im Aufzug.
    Der Mann von der Rezeption öffnete die Tür mit dem Generalschlüssel, blieb aber an der Schwelle stehen. Das Zimmer war abgedunkelt, und Espinoza machte Licht. Auf einem der Betten sah er Pelletier, die Decke bis zum Hals, auf dem Rücken liegen, das Gesicht leicht zur Seite geneigt und die Hände auf der Brust gefaltet. Auf seinen Zügen lag ein Ausdruck des Friedens, den er an Pelletier noch nie gesehen hatte. Er rief seinen Namen:
    »Pelletier, Pelletier. «
    Neugierig geworden, trat der Mann von der Rezeption ein paar Schritte vor und empfahl, ihn nicht anzufassen.
    »Pelletier«, rief Espinoza und packte ihn an den Schultern. Da schlug Pelletier die Augen auf und fragte, was los sei. »Wir dachten, du seist tot«, sagte Espinoza.
    »Nein«, sagte Pelletier, »ich habe geträumt, ich führe zum Urlaub auf die griechischen Inseln und mietete mir dort ein Boot und lernte einen Jungen kennen, der seine Tage mit Tauschen zubrachte.«
    »Ein schöner Traum«, sagte Espinoza.
    »Efectiviwonder«, sagte der Mann von der Rezeption, »ein sehr erholsamer Traum, wie es scheint.«
    »Äußerst eigenartig nur«, sagte Pelletier, »dass in dem Traum das Wasser lebendig war.«
    »Die ersten Stunden meiner ersten Nacht in Turin«, schrieb Norton in ihrem Brief, »verbrachte ich in Morinis Gästezimmer. Ich hatte keine Mühe einzuschlafen, plötzlich jedoch weckte mich ein ich weiß nicht ob wirklicher oder geträumter Donnerschlag, und ich glaubte, am Ende des Flurs die Silhouette von Morini und dem Rollstuhl zu sehen. Erst dachte ich mir nichts dabei und versuchte wieder einzuschlafen, bis mir auf einmal klar wurde, was ich gesehen hatte: Zum einen die Silhouette des Rollstuhls im Flur, zum anderen, schon nicht mehr im Flur, sondern im Wohnzimmer mit dem Rücken zu mir, die Silhouette von Morini. Sofort war ich hellwach, ergriff einen Aschenbecher und schaltete das Licht an. Im Gang war niemand. Ich ging ins Wohnzimmer, auch dort niemand. Noch vor Monaten hätte ich in einer solchen Situation einfach ein Glas Wasser getrunken und wäre wieder ins Bett gegangen, aber nichts war und wird mehr so sein wie damals. Was also geschah, war, dass ich in Morinis Zimmer ging. Als ich die Tür öffnete, sah ich zuerst den Rollstuhl an einer Seite des Bettes und dann den regelmäßig atmenden Morini unter der Decke. Ich flüsterte seinen Namen. Er rührte sich nicht. Ich erhob die Stimme, woraufhin Morinis Stimme fragte, was los sei.
    ›Ich habe dich im Flur gesehen‹, sagte ich.
    ›Wann?‹, sagte Morini.
    ›Vorhin, als ich den Donner hörte.‹
    ›Regnet es?‹, sagte Morini.
    ›Bestimmt‹, sagte ich.
    ›Ich bin nicht auf den Flur gegangen, Liz‹, sagte Morini.
    ›Ich habe dich dort gesehen. Du hattest dich erhoben. Der Rollstuhl stand im Flur, mir zugewandt, du aber standest am Ende des Flurs, im Wohnzimmer, mit dem Rücken zu mir‹, sagte ich.
    ›Das muss ein Traum gewesen sein‹, sagte Morini.
    ›Der Rollstuhl war mir zugewandt, aber du standest mit dem Rücken zu mir‹, sagte ich. ›Sag mir nicht, ich soll mich beruhigen, behandle mich nicht wie eine Vollidiotin. Der Rollstuhl schaute in meine Richtung, und du standest seelenruhig da und schautest mich nicht an. Verstehst du? ‹
    ›Ich glaube ja‹, sagte er, ›mein Rollstuhl bewachte dich, während ich dich ignorierte, oder? Als wären der Rollstuhl und ich eine Person oder ein Wesen. Und der Rollstuhl war böse, eben weil er dich ansah, und ich war es auch, weil ich dich belogen hatte

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