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Nächten erinnerte er sich an Rosas Mutter, und mal lachte er dann, mal musste er weinen. Er erinnerte sich an sie, während er in seinem Arbeitszimmer hockte und Rosa in ihrem Zimmer schlief. Das Wohnzimmer war leer und still und es brannte kein Licht. Hätte draußen auf der Veranda jemand die Ohren gespitzt, hätte er gehört, wie ein paar Mücken summten. Aber niemand spitzte die Ohren. Die Nachbarhäuser lagen stumm und dunkel da.
Rosa war siebzehn Jahre alt und Spanierin. Amalfitano war fünfzig und Chilene. Rosa besaß den Pass, seit sie zehn war. Auf manchen Reisen hatten sie merkwürdige Situationen erlebt, da Rosa die Grenzen durch die Absperrung für EU-Bürger passierte, Amalfitano dagegen durch die Nicht-EU-Bürgern vorbehaltene Absperrung. Beim ersten Mal bekam Rosa einen Tobsuchtsanfall, heulte und wollte sich nicht von ihrem Vater trennen. Ein andermal, als die Warteschlangen mit sehr ungleicher Geschwindigkeit vorrückten - die der EU-Bürger schnell, die der Nicht-EU-Bürger langsam und vorschriftsmäßig -, war Rosa verschwunden, und Amalfitano fand sie erst nach einer halben Stunde wieder. Wenn die Grenzbeamten die kleine Rosa sahen, fragten sie sie, ob sie allein reise oder jemand am Ausgang auf sie warte. Rosa antwortete dann, sie reise mit ihrem Vater, der Südamerikaner sei, und solle hier auf ihn warten. Einmal wurde Rosas Koffer durchsucht, weil man den Vater verdächtigte, im Schutz der Unschuld und Nationalität seiner Tochter Drogen oder Waffen zu schmuggeln. Aber Amalfitano hatte noch nie mit Drogen gehandelt, auch nicht mit Waffen.
Wer dagegen immer bewaffnet auf Reisen ging, erinnerte sich Amalfitano, während er in seinem Arbeitszimmer saß oder im Dunkeln auf der Veranda stand und eine mexikanische Zigarette rauchte, war Lola, Rosas Mutter, die sich nie von einem Springmesser mit Edelstahlklinge trennte. Einmal, noch vor Rosas Geburt, wurde sie am Flughafen festgehalten und danach befragt, was sie mit dem Messer wolle. Obst schälen, sagte Lola. Orangen, Äpfel, Birnen, Kiwis und dergleichen. Der Beamte sah sie eine Weile scharf an, dann ließ er sie durch. Ein Jahr und ein paar Monate nach diesem Vorfall kam Rosa zur Welt. Zwei Jahre danach verließ Lola die gemeinsame Wohnung, und noch immer trug sie das Messer bei sich.
Sie gab vor, ihren Lieblingsdichter besuchen zu wollen, der im Irrenhaus von Mondragón in der Nähe von San Sebastián lebte. Eine ganze Nacht lang hörte Amalfitano sich Lolas Erklärungen an, während sie nebenbei ihren Rucksack packte und versicherte, sie werde schon bald zu ihm und ihrer Tochter zurückkehren. Vor allem in letzter Zeit behauptete Lola ständig, den Dichter zu kennen, ihn während eines Fests in Barcelona kennengelernt zu haben, noch bevor Amalfitano in ihr Leben getreten sei. Auf diesem Fest, das Lola als ein wildes Fest, ein altmodisches Fest bezeichnete, das urplötzlich aus der Hitze des Sommers und einer Karawane von Autos mit roten Bremslichtern erwachsen sei, habe sie mit ihm geschlafen, und sie hätten sich die ganze Nacht geliebt, obwohl Amalfitano wusste, dass das nicht stimmte, nicht bloß, weil der Dichter schwul war, sondern weil Lola überhaupt erst durch ihn von seiner Existenz erfahren hatte, als er ihr nämlich ein Buch von ihm schenkte. Lola hatte es sich daraufhin zur Aufgabe gemacht, sämtliche Werke des Dichters aufzutreiben und ihre Freunde unter solchen Personen zu wählen, die den Dichter für einen Erleuchteten hielten, einen Außerirdischen, einen von Gott Gesandten, Freunde, die selbst gerade die Irrenanstalt von Sant Boi verlassen hatten oder nach wiederholten Entziehungskuren verrückt geworden waren. Eigentlich hatte Amalfitano immer gewusst, dass seine Frau sich irgendwann auf den Weg nach San Sebastián machen würde, weshalb er lieber nicht diskutierte, ihr einen Teil seiner Ersparnisse anbot, sie bat, in ein paar Monaten zurückzukommen, und ihr versprach, gut auf die Kleine aufzupassen. Lola schien nichts zu hören. Als ihr Rucksack gepackt war, ging sie in die Küche, machte Kaffee für zwei und wartete darauf, dass es Tag wurde, schweigend, trotz der Versuche von Amalfitano, Gesprächsthemen zu finden, die sie interessierten oder ihr wenigstens das Warten erträglicher machten. Um halb sieben klingelte es, und Rosa schreckte hoch. Ich werde abgeholt, sagte sie, und weil sie sich nicht rührte, musste Amalfitano aufstehen und an der Gegensprechanlage fragen, wer da sei. Er hörte, wie ein sehr zartes
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