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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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athletischen Burschen heißen Pfleger‹, sagte ich.
    ›Dann wurde er also von einer Krankenschwester und einem Pfleger begleitet‹, sagte er. ›Johns kletterte auf einen Felsen, und der kräftige Bursche kletterte ihm nach. Auf Anweisung von Johns setzte sich die Krankenschwester auf einen Baumstumpf und tat, als lese sie ein Buch. Dann begann Johns mit der linken Hand zu zeichnen, worin er mittlerweile ziemlich geschickt war. Die Landschaft schloss den Wasserfall ein, die Berge, die Felsvorsprünge, den Wald und die Krankenschwester, die versunken ihr Buch las. Dann geschah der Unfall. Johns richtete sich auf dem Felsen auf, rutschte aus, und obwohl der kräftige, athletische Bursche ihn noch zu packen versuchte, stürzte er in die Tiefe. ‹
    Das war alles.
    »Eine Weile lang sagte keiner etwas«, schrieb Norton in ihrem Brief, »bis Morini das Schweigen brach und mich fragte, wie es mir in Mexiko ergangen sei.
    ›Schlecht‹, sagte ich.
    Er stellte keine weiteren Fragen. Ich hörte sein bedächtiges Atmen, und er hörte mein Atmen, das sich rasch beruhigte.
    ›Ich rufe dich morgen an‹, sagte ich.
    ›Einverstanden‹, sagte er, aber noch einen kurzen Moment lang traute sich keiner von uns, aufzulegen.
    In dieser Nacht dachte ich an Edwin Johns, dachte an seine Hand, die jetzt wahrscheinlich in seiner Retrospektive hing, die Hand, die der Sanatoriumspfleger nicht hatte packen können, um seinen Sturz zu verhindern, obwohl Letzteres zu durchsichtig war, wie eine trügerische Fabel, die Johns nicht im Entferntesten gerecht wurde. Viel wirklicher war da diese Schweizer Landschaft, die Ihr gesehen habt und die ich nicht kenne, mit ihren Bergen und Wäldern, den schillernden Steinen und Wasserfallen, den tödlichen Schluchten und lesenden Krankenschwestern.«
    Eines Abends ging Espinoza mit Rebeca tanzen. Sie besuchten eine Diskothek in der Innenstadt von Santa Teresa, in der sie selbst noch nie gewesen war, die ihre Freundinnen aber in den höchsten Tönen lobten. Während sie Cuba Libre tranken, erzählte ihm Rebeca, dass zwei der Mädchen, die später tot wieder auftauchten, nach Verlassen der Diskothek entführt worden waren. Ihre Leichen fand man in der Wüste.
    Espinoza hielt es für ein schlechtes Vorzeichen, dass sie gesagt hatte, der Mörder komme regelmäßig in diese Diskothek. Als er sie zu Hause absetzte, küsste er sie auf den Mund. Rebeca roch nach Alkohol, und ihre Haut war ganz kalt. Er fragte, ob sie mit ihm schlafen wolle, und sie nickte, nickte mehrmals, ohne ein Wort zu sagen. Daraufhin wechselten sie vom Vorder- auf den Rücksitz und taten es. Eine schnelle Nummer. Aber hinterher schmiegte sie wortlos den Kopf an seine Brust, und er streichelte lange ihr Haar. In der Nachtluft hing ein Geruch nach Chemikalien, der in Wellen heraufzog. Espinoza dachte, es müsse in der Nähe eine Papierfabrik geben, und fragte Rebeca danach. Sie sagte, in der Gegend gebe es nur die von ihren Bewohnern selbst erbauten Häuser und Ödland.
    Er konnte ins Hotel zurückkommen, wann er wollte, immer war Pelletier noch wach, las ein Buch und wartete auf ihn. Eine Geste, dachte er, mit der Pelletier ihn seiner Freundschaft versicherte. Möglich auch, dass der Franzose nur nicht schlafen konnte und dass seine Schlaflosigkeit ihn dazu verdammte, in den leeren Aufenthaltsräumen des Hotels bis zum Morgengrauen zu lesen.
    Manchmal saß Pelletier im Pullover oder in ein Handtuch gehüllt im Schwimmbad und nippte an einem Whisky. Andere Male traf er ihn in einem Aufenthaltsraum, dessen Stirnseite ein riesiges Landschaftsbild des Grenzgebiets zierte, von einem Künstler gemalt, der, das ahnte man gleich, dort nie selbst gewesen war: Geschäftigkeit und Harmonie der Landschaft entsprangen mehr einem Wunschdenken als der Wirklichkeit. Die Kellner, selbst die von der Nachtschicht, waren mit seinem Trinkgeld zufrieden und bemühten sich, es ihm an nichts fehlen zu lassen. Wenn er dann kam, wechselten sie immer ein paar knappe, liebenswürdige Worte.
    Bevor er ihn in den einsamen Aufenthaltsräumen suchen ging, schaute Espinoza manchmal noch in seine Mailbox, in der Hoffnung auf Post aus Europa, von Hellfeld oder Borchmeyer, die Licht in das Rätselraten um Archimboldis Aufenthaltsort bringen konnte. Danach gesellte er sich zu Pelletier, und später gingen sie schweigend auf ihre Zimmer.
    »Am nächsten Tag«, schrieb Norton in ihrem Brief, »machte ich mich daran, meine Wohnung zu putzen und meine Papiere in Ordnung zu

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