2727 – Am Gravo-Abgrund
sich in einem Gebäude versteckt, das leer stand, weil seine Statik nicht mehr stimmte. War der gezackte Riss im Verputz schon vorher da gewesen? Er zog sich vom Boden bis zur Decke.
»Raus hier!« Toufec drehte sich um, und gemeinsam rannten sie zum Ausgang. Pazuzu öffnete ihnen die Gleittür. In seinem Ortungsschatten liefen sie über den metallenen Weg, vorbei an Sitzwürfeln, roten Pflanzenrabatten und tiefer gelegenen Flächen, deren Bedeutung Toufec ein Rätsel blieb.
Der durchdringende Ton war draußen viel lauter, ein enervierendes Geheul. Onryonen in bunten Gewandungen traten an die Fenster und Balkone. Andere kamen in Rudeln aus den Türen, schwärmten aus und sahen sich um. Stimmen und Rufe brandeten auf. Mehrere Gleiter starteten von den oberen Stockwerken, die bei den meisten Häusern reine Parkdecks waren.
»Da vorn!« Angespannt zeigte Toufec auf einen spiralförmigen Strauch, hoch wie ein Onryone. Er stand in einer Reihe von schneckenhausförmigen Gewächsen mit schwarzblauen Blättern, die den Gehweg flankierten. Winzige Leuchtfäden zogen sich über den verschlungenen Hauptstamm. Ob es Würmer oder Pflanzenteile waren, konnte Toufec nicht erkennen.
Der Strauch wogte in einem Wind, von dem auf Toufec und Shandas Straßenseite nichts zu spüren war. Der Anblick war gespenstisch. Ganz eindeutig ein Gravophänomen, und obwohl dabei niemand zu Schaden kam, hatte Toufec das unangenehme Gefühl, eine Horde Ordnungshüter würde ihm die Säbel entgegenstrecken.
»Wir ...« Eine Explosion mehrere Häuser weiter unterbrach Toufec. Das Donnern breitete sich aus. Scheiben klirrten.
Entsetzt blieb Toufec stehen und wandte den Kopf.
Gut fünfzig Meter vor ihnen sackte ein grünschwarzer Wohnturm in sich zusammen, dass der Boden bebte. Eine Staubwolke flog auf und hüllte das zusammenbrechende Hochhaus ein. Die oberen sichtbaren Stockwerke sackten in das diffuse Grau, bis sie darin verschwanden.
Onryonen hielten wie Toufec im Gehen inne, schrien und zeigten auf die Wolke. Immer mehr Bewohner kamen ins Freie. Ihre Emots leuchteten in hellem Orange.
»Oh nein.« Shanda hob den Arm, wie um das Unglück abzuwehren. Ihre Lippen zitterten, die Augen schimmerten feucht.
Gleiter der Ordnungskräfte näherten sich mit charakteristischem Geheul. Jeder Sirenenruf schmerzte Toufec.
Eine Frau in blauvioletter Robe erwachte aus ihrer Starre und rannte auf Shanda zu. Sie sprach in ihr Multikom. Toufec zog Shanda zur Seite, ehe sie mit der Onryonin zusammenstieß, die Shanda nicht sehen konnte.
»Komm!« Er aktivierte das Gravopak, um jeder zufälligen Berührung mit den aufgeregten Onryonen zu entgehen.
Shanda stieg neben ihm hoch. »Ich ... ich kann ihre Angst spüren. Glaubst du, dass wir mit Luna einen neuen Zug machen, oder ...«
Obwohl sie es nicht aussprach, wusste Toufec, was sie meinte. Sie fragte sich, ob Kemeny und YLA den Gravo-Irritator gestartet hatten. Toufec hoffte, dass das Chaos um sie herum an einem weiteren Zug lag. Wenn die Katastrophe das Werk des Widerstands war, trug auch er einen Teil der Verantwortung. Als könne er dem quälenden Gedanken dadurch entkommen, erhöhte er die Geschwindigkeit.
Sie blieben auf einer Höhe von fünf Metern und folgten dem Weg, den Pazuzu für sie vorgesehen hatte. Unter ihnen rannten Onryonen auf dem Gehweg durcheinander. Viele redeten in ihre Funkgeräte. Das Stimmendurcheinander wurde immer lauter.
Manche Onryonen stießen harte Laute aus, die im krassen Gegensatz zu den säuselnden Worten standen und an Husten erinnerten, aber irgendetwas anderes sein mussten. Vielleicht Hilferufe. Sicher versuchten sie, Familienangehörige zu erreichen. Toufec hätte das getan.
Rettungsgleiter und Einsatzfahrzeuge, die entfernt an Mondwürmer erinnerten, zischten und fuhren an ihnen vorbei. Einige warfen flimmernde Lichter, die sich in den Scheiben der Fenster spiegelten.
Toufecs Gedanken richteten sich auf das eingestürzte Haus, während sie sich der Staubwolke näherten. Hatte es wie ihr Versteck leer gestanden, oder lagen Hunderte Tote und Verletzte in den Trümmern? Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es ein instabiles, verlassenes Gebäude getroffen hatte. Trotzdem konnten Onryonen verletzt worden sein, die sich in seiner Nähe aufgehalten hatten.
»Pazuzu, bilde einen Schutzwall!« Der Ortungsschatten reichte nicht aus, falls ihnen Bruchstücke entgegenstürzen sollten.
Toufec zwang sich, ruhig zu atmen und die aufsteigende Angst niederzukämpfen. Er würde
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