275 - Licht und Schatten
Bezeichnung von einem Dörfler aufgeschnappt hatte, der seine Geliebte so genannt hatte, um sie zu umgarnen. Er selbst würde menschliche Umgangsformen und Redewendungen noch lange üben müssen, bevor er sie perfekt beherrschte. »Es ist alles bestens, meine Schöne.« Sie bezweifelte, dass seine Worte so gemeint waren, wie sie klangen; doch sie hörte sie dennoch gern, denn sie klangen gut.
»Mach mir nichts vor, Hermon.« Sie rieb ihr Gesicht an seinem drahtigen Vollbart, der sich, wie die ganze Oberfläche seines wandelbaren Körpers, aus winzigsten Schuppen zusammensetzte. »Du hasst sie noch immer, sonst würdest du dich nicht jedes Mal abwenden, wenn sie auftauchen.«
»Aruula und Maddrax?« Grao winkte ab. »Mit diesem Kapitel meines Lebens habe ich abgeschlossen.«
»Ich glaube dir kein Wort.« Sie richtete sich vor ihm auf, nahm sein bärtiges, breites Gesicht zwischen die Hände und sah ihm in die merkwürdig kalten Augen, die sie trotzdem so sehr liebte. »Deine Gedanken kreisen um sie.«
Er wich ihrem Blick aus. »Warum sollte ich mich mit einem Kerl beschäftigen, der seinen eigenen Sohn getötet hat?«
»Weil Daa'tan mehr dein Sohn war als seiner«, gab sie zurück. »Zumindest hast du ihn so gesehen, leugne es nicht!«
»Er hatte kein Recht, ihn zu töten!«, brach es plötzlich aus Grao heraus. »Ich hatte große Pläne mit Daa'tan. Er hätte so viel erreichen können!« Seine Stimme klang bitter - was für einen Daa'muren, der sein Dasein bislang in Kategorien wie Nutzen, Vorteil und Notwendigkeit eingeteilt hatte, absolut ungewöhnlich war. Ein Zeichen, dass Grao mehr und mehr menschliche Züge annahm?
Im nächsten Moment erkannte er selbst, dass er die Beherrschung verlor, wie tief der Blick in sein Innerstes war, den er Bahafaa in diesem Moment gestattete, und er kehrte abrupt zu seiner - gespielten? - Gleichgültigkeit zurück. »Sorge dich nicht. Ich habe versprochen, die beiden zu verschonen, und ich werde mich daran halten. Um meine neue Heimat - und dich - nicht zu verlieren. Es ist nicht relevant, ob ich ihnen vergeben habe oder nicht. Ich wünschte nur, sie würden bald von hier verschwinden.« Damit verstummte er, sprang von seinem Teppich hoch, verließ den kleinen Raum und seine Verkaufshalle.
Bahafaa aber stöhnte auf und sackte zusammen. »O Wudan.« Sie sank auf den Teppich und zog die Beine an. Zusammengekauert wie ein trauriges Kind lag sie da und seufzte. »Warum kann er ihnen nicht verzeihen? Was hätten Maddrax und Aruula denn anderes tun sollen?«
Sie hatte die traurige Geschichte ja gehört von Aruula und Maddrax und ihrem bedauernswerten und missratenen Sohn Daa'tan. Dass die Daa'muren - nicht Grao selbst! - der schwangeren Aruula das Kind aus dem Leib geraubt und in ihrem Sinne erzogen hatten.
Bahafaa erinnerte sich noch gut an den Krieg gegen die Daa'muren. Gegen die gefühllosen, brutalen Kreaturen, die alle Menschen des Planeten ihren Plänen opfern wollten. Wenn Grao genauso gewesen wäre, sie hätte ihn ohne Zögern zu töten versucht. Aber Grao war eben anders. Menschlicher. Und, davon war sie überzeugt, er besaß einen guten Kern, einen verborgenen Keim, den sie zum Erblühen bringen konnte.
Die enge Bindung zwischen ihm und dem Menschenjungen war Teil dieser Wandlung gewesen. Genauso die Folgen: Grao'sil'aana konnte den Verlust bis heute nicht verschmerzen.
»Was wird nur geschehen, o Wudan?« Die Gewissheit eines unvermeidlichen Verhängnisses schnürte ihr Herz zusammen. Sie wusste doch, wie gefährlich Grao werden konnte. Wer seine Zerstörungskraft erst einmal entfesselt hatte, würde ihm nicht lange widerstehen können.
Mochte er auch daherkommen wie ein freundlicher, etwas dickleibiger Händler, in Wahrheit war er eine tödliche Kampfmaschine.
»Ich liebe ihn doch, o Wudan«, flüsterte Bahafaa. »Ich will ihn nicht verlieren. Sag mir, was ich tun kann!«
Niemand antwortete ihr.
***
Bartolomé de Quintanilla stand am Bug der Karavelle und betete, versuchte die Gedanken auszublenden, die das Kollektiv der Schatten durchflirrten.
Mutter hier, Mutter da. Es schwirrte um ihn herum, dieses Wort. In der Takelage, in der Kombüse, im Ruderhaus, unter Deck, am Steuerrad… alle murmelten das Wort: Mutter. Irgendwer hatte irgendwann damit angefangen - war es nicht Capitan Rodriguez gewesen?
Unter deinen Schutz und Schirm fliehe ich, o heilige Jungfrau… betete der Padre. Verschmähe nicht mein Gebet in meiner Not, sondern erlöse mich von allen
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