28 Tage lang (German Edition)
her hörte ich das Gelächter der deutschen Soldaten. Anscheinend machten sie sich tatsächlich irgendeinen Spaß mit den Trauernden. Vielleicht ließen sie sie fröhlich tanzen. Ich hatte von solch widerlichen Scherzen gehört.
Was auch immer da los war, ich durfte keine Zeit verlieren. Ich nahm meine Taschen und lief gebückt von Grabstein zu Grabstein, Richtung Ausgang.
Da rief einer der Soldaten: «Lacht gefälligst mit!»
Gleich darauf hörte ich das gequälte Lachen der Menschen am Grab. Ich konnte ihnen nicht helfen. Das hier war das Ghetto. Meine Heimat.
3
Ignorieren. Ignorieren. Ignorieren.
Ich hastete durch die Straßen des Ghettos und musste wie immer alles um mich herum ausblenden, um das Leben hier ertragen zu können. Die Enge. Den Lärm. Den Gestank.
Es lebten so viele Menschen hier, ständig wurde ich angerempelt. Und das, obwohl ich wie alle anderen Ghettobewohner darauf bedacht war, die anderen möglichst nicht zu berühren. Die Angst, sich mit Typhus anzustecken, war einfach riesengroß.
Es war auch unglaublich laut, nicht etwa wegen des Verkehrs – im Ghetto durften keine Autos fahren –, sondern wegen der vielen Menschen, die hier lebten, sich unterhielten und stritten. Immer wieder hörte ich jemanden brüllen, entweder weil ihm etwas gestohlen wurde, oder weil er sich von einem Händler betrogen fühlte, oder schlicht und einfach, weil er wahnsinnig geworden war.
Am schlimmsten aber war der Gestank. In mehreren Hauseingängen lagen Leichen. Ein Anblick, an den ich mich nicht gewöhnen konnte. So viele Angehörige hatten weder das Geld noch die Kraft, ihre Liebsten bestatten zu lassen. Stattdessen legten sie die Toten nachts einfach auf die Straße, damit sie wie Abfall am nächsten Tag abtransportiert werden konnten. Über Nacht wurden den Leichen die Klamotten gestohlen. Eine Fledderei, die ich sogar nachvollziehen konnte: Die Lebenden benötigten Jacken, Hosen und Schuhe viel dringender.
Ich ignorierte auch die vielen bettelnden Kinder, an denen ich vorbeiging. Einige hockten apathisch am Straßenrand, andere, die noch die Kraft aufbrachten, zupften an meiner Kleidung. Für ein Stück Brot aus meinen Taschen hätten sie sich gegenseitig die Augen ausgekratzt.
Hannah durfte einfach nicht bei ihnen landen!
Vor allen Dingen aber ignorierte ich die schreiende Ungerechtigkeit im Ghetto. Neben all den armen und verzweifelten Menschen in ihren zerlumpten Kleidern gab es auch einige Reiche, die sich in Fahrrad-Rikschas zu den Delikatessläden fahren ließen. Eine Frau, die an mir vorbeifuhr und dabei ihren ausgemergelten Fahrer anbrüllte, er solle doch ein bisschen schneller machen, trug sogar einen edlen Pelz. Und das an diesem warmen Tag.
Trotz des Gestanks konnte ich im Ghetto wieder etwas freier atmen. Trotz der Enge konnte ich mich bewegen, ohne ständig Angst zu haben. Hier, auf diesen überfüllten, stinkenden und lauten Straßen wurde ich nicht von Hyänen gejagt. Hier war ich unter meinesgleichen. Darunter verstand ich die vielen, vielen Menschen, die versuchten, ihre Würde in dieser Hölle zu bewahren. Sie trugen gepflegte Kleidung, waren gewaschen und gingen ohne gesenkten Blick durch die Straßen. Gewillt, den Alltag zu meistern, ohne anderen zu schaden. Ohne zum Tier zu werden.
Das Ghetto hatte eben bei weitem noch nicht alle von uns gebrochen. Es gab sogar richtig gute Menschen. Zu denen gehörte ich selbstverständlich nicht. Die Guten, das waren die Lehrer, die Freiwilligen, die in den Suppenküchen arbeiteten, und Menschen wie Daniel. Vor allen Dingen Menschen wie Daniel.
Durch das Gedränge ging ich zu dem kleinen Laden von Jurek, einem bärtigen Alten, der die meiste Zeit gute Laune hatte und einer der wenigen war, die kaum unter den Umständen litten. Und das nicht nur, weil er gute Geschäfte machte mit den Waren, die er von mir und anderen Schmugglern ankaufte, sondern auch, weil er sein Leben schon gelebt hatte. «Ich hatte siebenundsechzig gute Jahre auf der Erde», hatte er einmal zu mir gesagt, «das ist mehr, als die meisten Menschen jemals haben werden. Egal ob Jude, Deutscher oder Kongolese. Wenn dann die letzten Jahre mühsam sind, fällt das in der Endabrechnung nicht so ins Gewicht.»
Als ich seinen Laden mit meinen Taschen betrat und dabei die kaputte Türklingel mehr schepperte als klingelte, rief er freudig: «Mira, mein Liebling!»
Dass er mich immer Liebling nannte, gefiel mir, obwohl mir selbstverständlich klar war, dass er jeden so
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