28 Tage lang (German Edition)
-Mann damit meinen?»
«Ich weiß es nicht … aber ich rechne mit dem Schlimmsten.»
Dass der optimistische Jurek das Gerede ernst nahm, beunruhigte mich. Es gab immer wieder Gerüchte, die Deutschen würden uns allesamt töten. Dass es ihnen nicht ausreichte, wenn nur ein Teil von uns verhungerte. Aber das waren eben nur Gerüchte. Und Jurek war normalerweise keiner, der darauf etwas gab.
«Das wird nicht passieren», widersprach ich, «die Deutschen brauchen uns doch als Arbeiter.»
So viele Juden arbeiteten als billige Sklaven in den Fabriken des Ghettos und produzierten alles Mögliche für die Deutschen: Möbel, Teile für Flugzeuge, sogar Uniformen für die Wehrmacht. Es wäre doch verrückt, darauf zu verzichten.
«Ja, sie brauchen Zwangsarbeiter», gab Jurek mir recht. «Aber nicht über vierhunderttausend.»
«Sie bringen doch auch lauter Juden aus den anderen Ländern hierher», argumentierte ich weiter. «Wenn sie die töten wollten, hätten sie das doch schon längst in deren Heimat getan.»
Aus Tschechien und auch aus Deutschland waren in den letzten Wochen viele Juden in das Ghetto gebracht worden. Besonders die deutschen Juden wollten mit uns polnischen nichts zu tun haben. Sie hielten sich für etwas Besseres. Viele von ihnen sahen mit ihrer großen Statur, den blonden Haaren und den blauen Augen aus wie Deutsche, einige von ihnen waren sogar Christen, die nur das Pech hatten, dass irgendein Großvater, den sie vielleicht noch nicht mal kannten, Jude war. Die Deutschen hatten diesen jüdischen Christen sogar erlaubt, einen Pfarrer mitzubringen, der für sie im Ghetto den Gottesdienst abhielt. Wie musste das alles für diese Christen sein? Sie waren jeden Sonntag in die Kirche gegangen und wurden mit einem Mal aus ihren Häusern vertrieben, mussten Armbinden mit dem Stern tragen und wurden in diese Hölle verschleppt –, alles nur weil sie einen jüdischen Großvater oder eine jüdische Großmutter hatten. Jedenfalls besaß dieser Jesus, an den sie immer noch glaubten, einen merkwürdigen Sinn für Humor.
«Logisch wäre es schon», stimmte mir Jurek zu, «die Menschen dort zu töten, wo sie leben.»
«Aber?», hakte ich nach.
«Die Nazis haben ihre ganz eigene Logik.»
Unwillkürlich musste ich daran zurückdenken, wie mein Vater von dem Soldaten geschlagen worden war, weil er ihn nicht gegrüßt hatte, und genauso geschlagen worden wäre, wenn er es getan hätte. Ja, die Nazis hatten wirklich ihre eigene, kranke Logik.
Dennoch überstieg es meine Vorstellungskraft, dass etwas Katastrophales geschehen könnte. Daher sagte ich zu Jurek, und vor allen Dingen zu mir selbst: «Es wird schon nicht so schlimm werden.»
Jurek rang sich ein Lächeln ab: «Das heißt, du willst mir das zusätzliche Geld zurückgeben?»
«Dafür kauf ich auf der polnischen Seite Kaffee», antwortete ich und ging zur Tür.
Da konnte der alte Mann sogar wieder richtig lachen: «Mira, du bist und bleibst mein Liebling.»
Ich verließ Jureks kleinen Laden und stürzte mich wieder nach draußen ins Gedränge. Auf seine ganz eigene Weise war dieses Ghetto mit seinem Gestank, der Enge und dem Lärm so lebendig, dass ich es mir einfach nicht ausmalen konnte, dass es je sterben würde. Einzelne Menschen sicherlich. Vielleicht sogar viele. Doch für jeden, der starb, wurden drei neue von den Deutschen in das Ghetto gepfercht. Solange es Juden gab, würde es auch das Ghetto geben.
Ich beschloss, Gerüchte Gerüchte sein zu lassen und mich nicht auf den Tod, sondern auf das Leben zu konzentrieren: Gleich würde ich meiner Familie ein großartiges Omelette mit frischen Eiern zubereiten!
4
Ich war keine fünf Meter gegangen, da sah ich einen kleinen, dreckigen Mann in Lumpen auf der Straße herumspringen. Es war Rubinstein.
Hunderttausende Menschen lebten im Ghetto, aber es gab nur drei, die jeder kannte. Einer von ihnen wurde verachtet, einer hochverehrt und einer belächelt. Der, der von allen belächelt wurde, war Rubinstein. Er hüpfte vor mir auf der Straße herum wie ein Kind. Oder wie ein Verrückter, der er vermutlich auch war. Oder wie ein Clown, der er ganz gewiss war. Der kleine Lumpenmann sprang auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Dabei machte er eine ausladende Verbeugung, als ob er ein Adeliger wäre und ich eine Prinzessin. Und er begrüßte mich mit seinem Lieblingsspruch: «Alle gleich!»
Mein gesunder Menschenverstand wusste natürlich, dass im Ghetto nicht alle gleich waren. Doch jedes Mal,
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