28 Tage lang (German Edition)
wenn ich Rubinstein das sagen oder laut rufen hörte, fragte ich mich, ob er womöglich nicht doch recht hatte. Auch und vor allem vor dem Hintergrund von Jureks Worten eben: Waren wir angesichts unserer Ghettohölle und unseres angeblich nahenden Todes nicht wirklich alle gleich? Egal ob wir reich oder arm waren? Jung oder alt? Bei gesundem Menschenverstand oder verrückt?
Und waren nicht selbst die Deutschen uns gleich, selbst wenn sie so viel Macht über uns besaßen? Schließlich konnten sie in diesem Krieg, der noch lange nicht zu Ende war und bei dem sie die Welt noch nicht komplett erobert hatten, ebenfalls jederzeit sterben.
Jedenfalls hatte Rubinstein als Einziger im Ghetto vor den Deutschen keine Angst. Wenn er SS -Männern begegnete, sprang er genauso um sie herum wie um uns. Dabei zeigte er erst auf sie, dann auf sich und lachte: «Alle gleich!» So lange, bis die SS -Leute zurücklachten und erwiderten: «Alle gleich.» Entweder weil sie es lustig fanden, oder weil sie tief in ihrem Inneren spürten, was sie uns gegenüber niemals zugeben würden: dass sie genauso zerbrechlich in dieser Welt waren wie wir.
Vielleicht war Rubinstein also doch nicht verrückt. Vielleicht war er weise, weil er keine Angst vor den Deutschen hatte. Womöglich belächelte er uns alle wegen unserer Furcht, genau wie wir ihn für seine Verrücktheit belächelten.
Rubinstein schaute sich um wie ein Clown, der in der Manege nach einem Opfer für seine Scherze sucht. Plötzlich lachte er, ich folgte seinem Blick: Am anderen Ende der Straße machte eine SS -Patrouille ihre Runde. Rubinstein war wohl der einzige Jude, der lachte, wenn er SS -Männer sah. Er hüpfte noch ein paar Meter weiter, baute sich vor Jureks Laden auf und rief so laut, dass der Alte es durch die Scheiben hören konnte: «Hitler stinkt!»
Durch das Fenster sah ich, wie Jurek hinter seiner staubigen Kasse zusammenzuckte.
«Hitler», rief Rubinstein, «macht Liebe mit seinem Schäferhund!»
Jurek wurde panisch. Die Passanten um uns herum sahen zu, dass sie von Rubinstein wegkamen. Auch mir war mulmig zumute. Wenn die SS -Männer diesen Irrsinn hörten …
Ich sah mich um, aber die Patrouille hatte den Verrückten – er musste doch verrückt sein, warum sollte er sonst so etwas Irrsinniges tun? – noch nicht bemerkt. So blieb ich neugierig stehen und vergaß eine der wichtigsten Überlebensregeln: Neugierig zu sein ist nie, aber auch wirklich nie, klug!
«Mit Hitlers Hund geht es rund!», ließ Rubinstein nicht locker.
Jurek nahm hastig Essen aus seiner Auslage: Schinken, Brot, Butter. Dann rannte er zu Rubinstein raus, drückte ihm all die Sachen in die Arme und blaffte: «Sei still!»
Jurek hatte große Angst, dass die Nazis nicht nur Rubinstein erschießen würden, sondern auch den Besitzer des Ladens, vor dem solche Ungeheuerlichkeiten gerufen wurden. Auch wenn der alte Mann befürchtete, dass wir bald alle sterben würden, wollte er doch nicht heute schon hingerichtet werden.
Rubinstein grinste Jurek an: «Ich mag auch Marmelade.»
«Du …», funkelte Jurek ihn böse an.
Endlich begriff auch ich es: Was Rubinstein da gerade machte, war die irrsinnigste Art, jemanden zu erpressen. «Ich kann auch rufen», grinste Rubinstein noch feister, «dass du mal mit Hitler schlafen möchtest.»
Der alte Händler bekam kein Wort heraus, so unverschämt war das.
Rubinstein drehte sich in Richtung der Soldaten, nahm seine Hände so an den Mund, dass sie eine Art Lautsprecher bildeten, und begann zu rufen: «Jurek will mit …»
Die SS -Soldaten sahen irritiert zu uns rüber. Jetzt bekam auch ich Angst um mein Leben. Ich Idiotin hätte schon längst verschwinden sollen!
Jurek legte blitzschnell seine Hand auf Rubinsteins Mund und zischte: «Du kriegst deine verdammte Marmelade!»
Der Erpresser nickte zufrieden. Jurek nahm die Hand von Rubinsteins Mund, und der hielt den Finger an seine Lippen, um zu demonstrieren, dass er schweigen würde.
Die SS -Leute schauten wieder weg. Jurek schnaufte durch, rannte blitzschnell in seinen Laden und kehrte mit einem großen Glas wieder auf die Straße zurück.
Au Mann, ich war noch nie so froh gewesen, Marmelade zu sehen.
«Erdbeere!», freute sich Rubinstein und griff mit den Fingern sofort tief ins Glas. Er holte eine Handvoll Marmelade heraus und stopfte sie sich genüsslich in den Mund.
Es gab durchaus appetitlichere Anblicke auf dieser Welt.
Rubinstein lächelte mich an und bot mir an, auch ins Glas zu
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