28 Tage lang (German Edition)
Hannah herein. Stürmisch und leichtfüßig zugleich. Sie war ein elfenhaftes Wesen, allerdings eines in schäbiger Kleidung und mit raspelkurzen Haaren – letzten Monat hatte sie Läuse, und ich musste ihre Haare ganz kurz schneiden. Beim Ansetzen der Schere hatte ich eigentlich erwartet, dass Hannah schrie und sich wehrte, aber sie machte einfach nur aus der Angelegenheit eine ihrer Geschichten: «Wenn ich mir die Haare noch länger wachsen lassen würde, dann würde ich sie mir zu zwölf langen Zöpfen flechten. Die Zöpfe könnte ich dann bewegen wie Arme und mit ihnen Leute umschlingen. Und ich könnte die Leute dann durch die gewaltige Kraft meiner Zöpfe durch die Luft schleudern, und niemand würde mich im Kampf besiegen können.»
«Wenn das so ist», hatte ich gelacht, «warum bist du dann damit einverstanden, dass ich sie dir abschneide?»
«Weil ich mit diesen Zöpfen auffallen würde. Die Deutschen hätten dann Angst vor mir. Und sie würden kommen, weil sie mich kriegen wollen. Ich würde zwar mit meinen zwölf Monsterzöpfen zuschlagen können und die Soldaten sogar durch Wände hindurchschmeißen. Aber sie haben Gewehre. Und gegen ihre Gewehre könnten selbst meine Zöpfe nichts ausrichten. Die Deutschen würden mich erschießen. Und danach meine Zöpfe abschneiden als Warnung an alle, die sich die Haare zu Waffen wachsen lassen. Es ist besser, wenn die Haare jetzt abkommen, bevor sie zur Waffe werden. Sonst bemerken die Deutschen mich noch.»
Hannah wäre lieber unsichtbar gewesen als stark. Der Unsichtbare überlebte im Ghetto eher als der Starke.
Ich stellte den Teller mit dem Omelette auf den Tisch. Ohne dass Hannah auch nur ein Wort des Grußes sagte, stürzte sie sich darauf und begann zu futtern. Mama rappelte sich von der Matratze auf, setzte sich neben mich auf den letzten freien Stuhl – die anderen hatte ich im letzten Winter im Ofen verfeuert –, und wir beide begannen ebenfalls zu essen. Langsamer als Hannah. Wir überließen ihr gerne etwas mehr und würden sie schon stoppen, bevor sie uns allzu viel wegaß.
«Warum hat Mama so gegrinst, als ich reinkam?», fragte die Kleine mit übervollem Mund. Ihre Tischmanieren ließen eindeutig zu wünschen übrig. Doch wer hatte schon Zeit oder Geduld, einem Kind Manieren beizubringen?
«Also, was ist?», fragte sie noch mal, weil ich nicht antwortete, und etwas Ei drohte ihr dabei aus dem Mundwinkel zu fallen. Gerade noch fing sie es mit ihrer flinken Zunge auf.
«Mira hat einen Jungen geküsst», erklärte Mama mit ihrer dünnen Stimme. «Und dieser Junge war nicht Daniel.»
Bevor ich erklären konnte, dass der Kuss rein gar nichts zu bedeuten hatte, außer der Tatsache, dass mein Leben durch ihn gerettet wurde, dass ich Daniel liebte und nur Daniel und dass es ebenfalls rein gar nichts zu bedeuten hatte, dass ich nervös wurde, wenn wir auf diesen Kuss zu sprechen kamen, und erst recht nichts, dass ich gerade rot wurde, sagte Hannah: «Och, ich hab auch einen Jungen geküsst.»
Jetzt fiel mir fast das Omelette aus dem Gesicht. «Du … du hast jemanden geküsst?», fragte ich.
«Nach der Schule.»
Deswegen war sie also zu spät gekommen. «Und wen?»
«Ben.»
«Sitzt der mit dir im Unterricht?», wollte ich wissen und musste lächeln. Ich fand die Vorstellung irgendwie süß, wie ein zwölfjähriger Junge meiner kleinen Schwester verstohlen einen Kuss auf die Wange drückte.
«Nö», antwortete sie.
Mama driftete bei dem Gerede über Küsse schon wieder ab, zurück in die Zeit, als mein Vater noch lebte und sie mit ihm so glücklich gewesen war.
«Ist dieser Junge etwa noch jünger als du?», frotzelte ich Hannah an.
«Nö, der ist fünfzehn.»
Jetzt fiel mir das Omelette tatsächlich aus dem Gesicht.
«Er ist richtig, richtig nett», erklärte Hannah.
Ein Junge, der fast so alt ist wie ich und eine Zwölfjährige küsst, ist nicht nett!
«Und er kann gut mit Zunge küssen.»
«Er kann waaas?»
«Mit Zunge küssen», antwortete Hannah, als ob es das Normalste von der Welt wäre.
Sie war noch zu klein für so etwas, geschweige denn für mehr. Instinktiv blickte ich zu Mama, sie sollte etwas tun. Irgendetwas. Sie war Hannahs Mutter, nicht ich! Doch Mama stand nur vom Tisch auf und legte sich wieder hin.
«Hannah», hob ich an, während sie sich Mamas Teller schnappte, «ist der Junge nicht etwas zu alt für dich?»
«Nö», erwiderte sie mampfend. «Höchstens ein bisschen zu schüchtern.»
«Du hast ihn
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