28 Tage lang (German Edition)
geküsst?!?», kombinierte ich entsetzt.
«Ist es nicht das, was Prinzessinnen tun?»
«Eigentlich nicht», erwiderte ich.
«In meinen Geschichten schon», grinste Hannah mich breit an.
Wenn es die Nazis nicht schafften, würde mich dieses Mädchen gewiss ins Grab bringen.
Wie konnte ich sie nur davor bewahren, mit einem älteren Jungen so einen Blödsinn anzustellen? Ich brauchte Hilfe. Jemanden, der besser wusste, wie man mit Kindern umging. Ich brauchte Daniel.
6
Von den drei Männern, die im Ghetto alle kannten, war der von allen Verehrte auch jenseits der Mauern eine Berühmtheit, in Polen und sogar in der ganzen Welt. Janusz Korczak hatte die Geschichten vom kleinen König Macius erfunden, die auch Hannah so sehr liebte und von denen ich vermutete, dass sie ihre Phantasie entfesselt hatten.
Der bärtige, dünne alte Mann führte ein Waisenhaus, das überall auf dem Erdball die Menschen inspirierte. Kinder waren in diesem Waisenhaus vollkommen gleichberechtigt mit den Erziehern. Wenn einer der Erwachsenen etwas falsch gemacht hatte, durften die Kinder ihn sogar vor ein Gericht stellen und eine Strafe verhängen. Selbst gegen den weltberühmten Korczak.
Anfang der Woche hatte ich das miterlebt. Da hockte Korczak auf einem Stuhl vor drei Kindern, die hinter ihren kleinen Tischchen saßen wie ein Richter und dessen Beisitzer.
«Janusz Korczak», sagte ein vielleicht zehnjähriges Mädchen, das die Richterin war, streng, «Sie werden angeklagt, Mitek angeschrien zu haben, nur weil er einen Teller auf den Boden geworfen hat. Mitek hatte so viel Angst nach Ihrem Gebrüll, dass er weinen musste. Was sagen Sie zu Ihrer Verteidigung?»
Der alte Mann lächelte zerknirscht und erwiderte: «Ich war müde und erschöpft. Und ich war deswegen unbeherrscht. Es war nicht richtig, Mitek so anzuschreien. Und ich akzeptiere jede Strafe, die das Hohe Gericht festlegt.»
Die kleine Richterin beriet sich mit ihren beiden Beisitzern, zwei noch kleineren Jungen, und verkündete: «Da Sie sich schuldig bekennen, gibt es eine geringere Strafe. Wir verurteilen Sie dazu, eine Woche lang die Tische abzuwischen.»
Ich hätte an seiner Stelle der Kleinen etwas gehustet. Doch Korczak erwiderte höchst respektvoll: «Ich nehme die Strafe an.»
Er nahm die Kinder ernst. Dadurch verlieh er ihnen Würde. Eine Würde, die die Welt ihnen nicht gewähren wollte.
Daniel hatte bereits als kleines Kind seine Eltern verloren, sie waren an Tuberkulose gestorben, mehr wusste er nicht über sie. Er lebte fast schon sein ganzes Leben bei Korczak. Mittlerweile gehörte er zu den ältesten Kindern im Waisenhaus und übernahm jede Menge Verantwortung für die über zweihundert Kleinen. Gleich nachdem das Waisenhaus in das Ghetto hatte umsiedeln müssen, hatte Korczak die Fenster zur Straße zumauern lassen. Die Kinder sollten vom Schrecken des Alltags möglichst wenig mitbekommen. Ich hielt das anfangs für weltfremd, aber Daniel hatte mir erklärt, dass es für das Seelenheil der Kinder wirklich besser so war. Und mittlerweile musste ich ihm recht geben. Wenn ich wie jetzt den großen Saal betrat, war ich immer wieder erstaunt, wie heil diese Welt doch war: Die Betten standen zwar eng an eng, aber sie waren ordentlich bezogen, und wenn es Essen gab – wie jetzt am Abend –, saßen alle lieb an den großen Tischen. Da mampfte niemand so ungestüm wie Hannah. «Manieren» war für diese Kinder kein Fremdwort, und dank des guten Schulunterrichtes, den sie bei Korczak genossen, konnten die meisten hier das Wort sogar auch noch buchstabieren.
An einem Tisch mit vielen Vorschulkindern saß Daniel. Mit seinem Aussehen hätte er keine Minute im polnischen Teil der Stadt überlebt. Er hatte eine wilde schwarze Lockenmähne, eine große markante Nase und dunkle Augen, in denen man sich verlieren konnte.
Ich beobachtete Daniel, wie er mit den Kindern herumblödelte. Ein kleiner Junge mit einem viel zu großen Pullover hielt sich vor Lachen den Bauch. Über das Klappern des Essgeschirrs hinweg konnte ich nicht verstehen, worüber die Kleinen so lachten. Einen Tisch weiter saß Korczak. Der Mann sah von Tag zu Tag eingefallener aus, geradezu ausgezehrt. Ich musste nur für drei Personen Essen besorgen, er hingegen für über zweihundert. Daniel hatte mir erzählt, dass Korczak erst letzte Woche wieder mit dem Judenrat um Extrarationen gefeilscht hatte, die er aber nicht bewilligt bekommen hatte und daher das erste Mal von Schmugglern Spenden annehmen
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