28 Tage lang (German Edition)
musste. Früher hätte sich dieser hochanständige Mensch mit solchen Leuten nie an einen Tisch gesetzt. Inzwischen hätte er, um seine Kinder durchzubringen, selbst mit dem Teufel Tango getanzt.
Daniel entdeckte mich und rief: «Schaut mal, Kinder, wer da ist! Mira!»
Ich blieb in der Tür stehen. Einige der Kleinen winkten mir zu, aber so richtig begeistert waren sie nicht. Ein kleines, vielleicht siebenjähriges Mädchen mit rot gepunktetem Kleidchen streckte mir sogar die Zunge raus. Ich gehörte nicht zur Gemeinschaft, obwohl ich schon seit einem halben Jahr regelmäßig vorbeikam. Kein Wunder, ich hatte nie wirklich Anstalten gemacht, mich Daniels vielen kleinen Geschwistern anzunähern. Mir reichte schon Hannah.
Am liebsten wäre ich heute Abend mal ausgegangen. Heute spielte im Femina-Theater – ja, es gab Theater im Ghetto – das Stück
Die Liebe sucht eine Heimat
. Es handelte von zwei einander fremden, total unterschiedlichen Ehepaaren, die sich eine kleine Wohnung teilen müssen. Die einen sind Musiker, die anderen arbeiten in der Verwaltung des Judenrates. Anfangs können sie sich nicht ausstehen, doch dann verlieben sich die verschiedenen Ehepartner über Kreuz ineinander, und es entstehen jede Menge Verwicklungen. Das Stück sollte komisch sein, berührend, auch etwas traurig, hatte mir jedenfalls Ruth erzählt, die es mit dem Mafiaboss Schmul Ascher, ihrem Lieblingsfreier, angesehen hatte. Es war jedoch völlig undenkbar, Daniel einen Theaterbesuch vorzuschlagen. Er besaß kein Geld, und von mir würde er sich nicht einladen lassen. Jeder Złoty, der nicht für die Kinder im Waisenhaus ausgegeben wurde, war für Daniel ein verschwendeter Złoty. Es war auch völlig sinnlos, mit ihm darüber zu diskutieren. Das hatte ich schon ein paarmal getan und uns jedes Mal damit den Abend verdorben. Das war eben der Nachteil, wenn man mit einem anständigen Kerl zusammen war.
Daniel lächelte mir zu. Ich wusste, dass ich auf ihn warten musste, bis alle Kinder sich gewaschen und ins Bett gelegt hatten. Um acht Uhr abends wurde das Licht ausgemacht, aber Daniel hatte immer noch ein paar Worte für die Kleinen, die es nicht schafften, in den Schlaf zu finden.
Ich hätte ihm und den anderen älteren Kindern helfen können, die Horde bettfertig zu machen, aber nach diesem Tag hatte ich schlichtweg keine Lust, mich noch mit kleinen Kindern herumzuschlagen. Ich war nun mal nicht halb so selbstlos wie mein Freund. Und nicht ein Hundertstel so selbstlos wie Korczak, der einem kleinen Kind den Mund abputzte und sich danach daranmachte, die Tische abzuwischen, so wie es das Kindergericht bestimmt hatte. Wäre ich auch nur ein kleines bisschen selbstlos gewesen, hätte ich dem müden alten Mann das Wischtuch abgenommen und seine Aufgabe übernommen.
Stattdessen verließ ich den Saal und machte mich auf den Weg zu jenem Ort, an den Daniel und ich uns immer zurückzogen, um in einer überfüllten Welt mal für uns zu sein: das Dach des Waisenhauses.
Hier verbrachten wir unsere gemeinsamen Abende, bei Wind und Wetter, selbst bei Minusgraden. Wo hätten wir auch sonst hingekonnt? Daniels Bett war im großen Schlafsaal. Und bei mir zu Hause waren Mama und Hannah.
Hannah. Wie sollte ich sie nur dazu bringen, keine großen Jungs zu küssen?
Auf dem Dachboden des Waisenhauses angekommen, öffnete ich ein Fenster und kletterte durch die Luke auf das schräge Dach mit den dreckigen braunen Ziegeln. Ich musste auf ihnen etwas herunterschliddern, um auf einen ungefähr zwei mal zwei Meter großen Vorsprung zu gelangen. Der war unser kleines Fleckchen Erde.
Ich blickte über die Dächer des Ghettos bis zur Mauer. An der sah ich einen Wachmann auf und ab marschieren, sein Gewehr geschultert. Ob es Frankenstein war? Hätte ich ein Gewehr, könnte ich dieses Monster auch wie einen Spatz abschießen. Wenn ich denn mit einem Gewehr umgehen könnte. Und wenn ich dazu in der Lage wäre, andere zu töten.
War ich das?
Nein, so sehr konnte ich nicht hassen. Keine Ahnung, warum Frankenstein das konnte. Oder die anderen Nazis.
Abgesehen davon war die ganze Vorstellung schon in der Grundannahme absurd: ein Jude mit einem Gewehr. Das gab es nicht. Oder gar eine Jüdin mit Gewehr. Das war in etwa so realistisch wie Deutsche, die Shalom Aleichem sangen.
Es wurde langsam kühl, also zog ich mir meine mitgebrachte braune Lederjacke, die ich über alles liebte, über die Bluse. Dann hockte ich mich hin, ließ meine Beine über der
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