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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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greifen. Ich sah zu Jurek, wollte ihn einerseits nicht beleidigen, andererseits hatte ich schon seit langem keine Erdbeermarmelade gegessen. Die kostete auf dem Schwarzmarkt fast so viel wie Butter. Der alte Mann seufzte: «Ach Mira, mach doch. Hauptsache, der Irre hält die Klappe.»
    Nachdem Jurek in seinem Geschäft verschwunden war, griff auch ich in das Glas und führte mir eine Riesenladung zum Mund. Mir war dabei völlig egal, dass Rubinstein mit seinen dreckigen Fingern bereits in der Marmelade rumgerührt hatte. Sie war einfach zu köstlich.
    Und während ich den herrlich süßen, fruchtigen Geschmack genoss, dachte ich mir, dass Rubinstein ganz gewiss nicht wahnsinnig war, sondern einfach nur der Raffinierteste von uns allen.
    «Vielleicht», scherzte ich, «sollte ich bei dir in die Lehre gehen.»
    «Dann», lächelte der kleine Mann zurück, «zeige ich dir, wie man sich von den reichen Juden zum Fünf-Gänge-Essen einladen lässt.»
    «Das würde ich gerne lernen», lachte ich.
    Ausbildung bei einem Wahnsinnigen. Und ich wollte mal Medizin studieren.
    Rubinstein steckte die Zunge in den Marmeladentopf und schleckte darin herum. Jetzt war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich noch ein weiteres Mal hineingreifen mochte.
    «Glaubst du wirklich», fragte ich ihn, «dass wir alle gleich sind?»
    Er nahm sein Gesicht wieder aus dem Glas und erwiderte, während ihm die rote Marmelade vom Kinn tropfte: «Natürlich. Und wir sind auch alle frei.»
    Meinte er das alles ironisch?
    «Das ist eine recht eigenwillige Sicht der Dinge», erwiderte ich.
    Mit einem Male wurde Rubinstein ganz ernst: «Nein, das ist es nicht.»
    Nun wirkte er nicht wie ein Wahnsinniger, nicht wie ein Clown, sondern wie ein Mann, der die Wahrheit gefunden hatte: «Jeder ist frei zu entscheiden, was für ein Mensch er sein möchte.»
    Und dann sah er mir tief in die Augen: «Die Frage ist, kleine Mira, was für ein Mensch möchtest du sein?»
    «Einer, der überlebt», antwortete ich leise, abwehrend.
    «Das scheint mir als Sinn des Lebens nicht unbedingt ausreichend», antwortete der Clown. Dann lachte er mich an – nicht aus –, hüpfte mit seiner Beute davon und ließ mich mit der Frage zurück: Was für ein Mensch möchte ich sein?

5
    Ich ging das Treppenhaus der Miła-Straße  70 hinauf. Es war unglaublich voll. Nicht etwa weil so viele Menschen gleichzeitig in ihre Wohnungen wollten, nein, das Treppenhaus war für viele die einzige Bleibe. Hier schliefen ganze Familien auf den Absätzen, aßen auf den Treppenstufen ihre Brotrationen und starrten stumpfsinnig aus den Fenstern, deren zerschlagene Scheiben niemand reparierte.
    Als die Nazis das Ghetto errichtet hatten, war es ihnen völlig egal gewesen, ob der Platz darin für so viele Menschen reichte. Für uns gab es nicht mal ansatzweise genug Wohnungen. Das bedeutete: In jedem Haus lebten viel zu viele Menschen in den Zimmern, auf dem Dachboden, im Treppenhaus, im kalten feuchten Keller. In diesem Frühling 1942 wurden es mit dem Zuzug der Juden aus den anderen Ländern täglich sogar noch mehr.
    Unsere Familie hatte bei der Umsiedlung das Glück – oder besser gesagt, das Geld –, ein eigenes Zimmer zu ergattern. Bevor wir ins Ghetto umsiedeln mussten, hatten wir noch in einer geräumigen Fünfzimmerwohnung gelebt. Doch die mussten wir einem kinderlosen polnischen Paar schenken, das sich auch über unsere Möbel sehr freute. Mitnehmen durften wir lediglich eine Karre mit ein paar Koffern. Diese Karre zogen wir inmitten eines großen, gespenstischen Marsches Tausender Juden durch die Straßen von Warschau. Bewacht wurde unser Gang hinter die Mauern von den deutschen Soldaten. Und begafft wurde er von vielen Polen, die auf den Gehwegen standen oder an ihren Fenstern saßen und die nichts dagegen zu haben schienen, dass ihr Teil von Warschau «judenfrei» wurde.
    Als wir unsere neue Bleibe in der Miła-Straße  70 betraten, brach meine Mama in Tränen aus. Ein einziger Raum. Für fünf Personen. Ohne Betten. Dafür mit einem kaputten Fenster. Meinem Vater standen ebenfalls die Tränen in den Augen. Er hatte in den wenigen Tagen zwischen der Ankündigung, dass in den heruntergekommensten Straßen Warschaus ein Ghetto errichtet wurde, und dem Tag der Umsiedlung alles dafür getan, eine Bleibe für uns zu finden. Er war von Amt zu Amt gelaufen, hatte Angestellte des von den Nazis eingesetzten Judenrates geschmiert und Tausende von Złoty bezahlt. Papa hatte so dafür gesorgt,

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