283 - Der Zorn der Königin
klar geworden, dass sie zumindest Meikel nicht zu einem Aufenthalt in London überreden konnte. Gleichzeitig aber wollte sie auf die Begleitung des Ehepaars nicht verzichten. In diesen Zeiten reiste man besser nicht allein, und schon gar nicht als Frau. Also musste sie einen Weg finden, sich den beiden anzuschließen und trotzdem ihr Vorhaben durchzuführen.
Ihr schnell gefasster Plan schien aufzugehen: Durch das Fenster hörte sie jetzt die aufgeregte Stimme des Fischers, der inzwischen die Überreste des Bootes gefunden hatte. »Bei Wudan, es ist zerstört! Es ist zerstört!«, hörten die Frauen ihn jammern. Sie wechselten alarmierte Blicke. Dann stürmten sie die Treppe hinunter. Zusammengekauert saß Meikel am Brunnen vor der Hütte. Mit gebrochener Stimme berichtete er über das, was die ehemalige Queen längst wusste. Während Enna jeden seiner Sätze mit einem »Gütiger Himmel« bedachte, wartete Victoria auf ihren Einsatz.
»Wie sollen wir jetzt über das Meer kommen? Unser Geld reicht nicht für ein neues Boot. Und eines zu bauen, kostet zu viel Zeit«, jammerte der Alte.
Als er endlich aufhörte zu klagen und nur noch ratloses Schweigen herrschte, legte Victoria Windsor ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Ich verspreche euch: Wir werden ans Ziel kommen. Im Hafen von Landán liegt mein königlicher Zweimaster. Mit ihm und seiner Besatzung werden wir die verlorene Zeit, die wir für unsere Reise in die Stadt brauchen, wieder aufholen.«
Viel mehr brauchte die Lady nicht zu sagen. Keine Stunde später brach die kleine Gemeinschaft auf.
***
Tage später in den Hügeln vor Salisbury
Anfangs schien die Reise von Lady Victoria Windsor und den Hingers unter einem guten Stern zu stehen. In Sidemouth, wo sie sich mit Proviant eindeckten, trafen sie auf einen Bauern, der sie auf seinem Wakuda-Karren bis Yeovil mitnahm. Nach einer Stärkung in dessen Haus marschierten die drei weiter Richtung London.
Ihre Glieder schmerzten unter der Last der Rucksäcke und der ungewohnten Anstrengung der langen Wanderung. Der Abend dämmerte bereits, als sie ihr erstes Nachtlager unter freiem Himmel aufschlugen. Wortkarg und erschöpft nahmen sie eine kleine Mahlzeit ein.
Während die Hingers danach auf ihr Lager sanken und sofort einschliefen, übernahm die ehemalige Queen mit einer Axt bewaffnet die erste Wache. Nach einem sonnigen Tag brachte die Nacht Kälte und Nebel. Victoria war froh über Meikels Lederjacke, die innen mit Schafswolle gefüttert war. Sie lauschte den Geräuschen der Nacht und dachte an die vergangenen Stunden.
Auf ihrem Weg hierher war das anfängliche Turteln des älteren Paares allmählich verebbt. Das lag nicht nur an der Anstrengung des Fußmarsches oder den vielen Meilen, die die Hingers jetzt von ihrer vertrauten Wohnstätte trennten. Es handelte sich vielmehr um die Ungeduld, schneller vorwärtskommen zu wollen, als es mit der schweren Ausrüstung und den untrainierten Körpern möglich war.
Auch Victoria Windsor verspürte diese Ungeduld. Der Drang zur Eile schien stärker zu werden, je weiter sie nach Osten kamen. Es würde nicht viel Zeit bleiben, in London ihren Schwur einzulösen. Im Osten warteten schon andere auf sie! Dieses Wissen ließ alle anderen Gefühle in Lady Victoria zunehmend in den Hintergrund treten.
Doch sie wollte nicht vergessen! So zwang sie sich, an Vergangenes zu denken. Jede Minute, in der nicht das Ehepaar oder die Wegstrecke sie beschäftigten, nährte sie ihren Hass mit Erinnerungen an den Überfall der Lords auf den Bunker kurz nach Einsetzen des EMP. Und während sie jetzt in die Flammen des Lagerfeuers starrte, zog ein Heer von Verstümmelten und Toten an ihrem inneren Auge vorüber.
Als Meikel sie viele Stunden später ablöste, schreckte er einen Moment lang vor ihr zurück. »Geht es dir nicht gut?«, erkundigte er sich vorsichtig. Dabei sah er sie an, als ob ein Gespenst vor ihm säße.
Victoria schüttelte schweigend den Kopf und legte sich auf ihr Lager. Sie wäre vermutlich bei ihrem Anblick auch erschrocken: Ihre Augen funkelten unter schmalen Lidern und von den Lippen war nur eine bleiche Linie zu sehen. Es war ein Gesicht, aus dem der Hass sprach.
Der nächste Tag ihrer Reise führte sie durch aufgeweichtes Grasland und lichte Eichenhaine. Die ersten Stunden kamen sie nur schleppend voran. Die Muskeln der Wandernden schienen aus Stein zu sein und schmerzten höllisch bei jedem Schritt. Doch irgendwann wurden sie geschmeidiger und
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