284 - Augen der Ewigkeit
»Danke, Martyr, aber ab hier übernehme ich.«
Der heilige Mann ließ das Gewehr sinken. »Diese Fremden -«, begann er.
»- haben ein Schäfchen deiner Gemeinde zur Herde zurückgebracht. Wir müssen ihnen dankbar sein!«
Laut vor sich hin schimpfend kehrte der Rev'rend zu seinem Zelt zurück. Dort drehte er sich noch einmal um: »Vergesst nicht die Predigt heute Abend! Ich erwarte euch!«
»So wie jeden Tag. Wir vergessen es nicht.« Der Dorfvorsteher wandte sich Matt zu. »Mein Name ist Tinntin. Bitte folgt mir.«
Matt, dem Roos langsam zu schwer wurde, wollte etwas sagen, da drehte sich Tinntin schon um und stelzte durch den Matsch auf eine Hütte zu. Der Mann aus der Vergangenheit und seine Begleiterinnen folgten ihm.
Als der Dorfvorsteher das windschiefe Haus erreicht hatte, klopfte er an die Tür. »Ireen, komm heraus!«
Nur Sekunden später öffnete eine Frau in hellbrauner, grober Kleidung. Ihre Augen waren verschwollen, als hätte sie geweint. Ihre Miene strahlte eine unglaubliche Traurigkeit aus - bis zu dem Moment, als sie Matt sah.
Oder vielmehr Roos in seinen Armen.
Ireen stürzte herbei und begann erneut zu weinen, diesmal aber vor Freude und Erleichterung. Sie streichelte dem Mädchen immer wieder über die Stirn. Ohne Unterlass murmelte und schluchzte sie dabei vor sich hin. »Meine Tochter. Ihr habt mir meine Roos zurückgebracht. Ich danke euch von ganzem Herzen.«
Als sie Matts angestrengtes Gesicht sah, sagte sie: »Kommt doch herein. Ihr müsst mir genau erzählen, was passiert ist.«
***
Januar 2013
»Haben Sie endlich brauchbare Ergebnisse erzielt?«
Dr. Diana Hoyt richtete sich auf. Noch einmal betrachtete sie den ohnmächtigen, festgegurteten jungen Mann mit der Augenbinde, der vor ihr auf der Pritsche lag, dann wandte sie den Blick Roger Milan zu.
»Das kann ich erst sagen, wenn wir ihm die Binde abnehmen«, antwortete sie.
»Dann tun Sie das doch endlich! Worauf warten Sie?« Der Millionär knetete die Hände vor der Brust. »Sie wollen doch nicht riskieren, dass ich Ihnen die Essensration kürze. Oder wollen Sie das? Vielleicht möchten Sie auch Ihrem Kollegen in die Freiheit folgen?«
Sie schlug die Augen nieder. »Nein, natürlich nicht.«
Niemals hätte sie geglaubt, dass es so weit kommen könnte, aber inzwischen verabscheute sie Roger Milan. Sie hasste ihn aus tiefstem Herzen, wie sie noch nie zuvor jemanden gehasst hatte. Doch sie fürchtete ihn auch. Oder besser, sie fürchtete seine Leibwächter, die in hündischer Ergebenheit alles taten, was ihnen ihr Herr und Meister auftrug.
Wie hatte sich der Millionär doch in den letzten Monaten verändert! Eine gewisse Portion Egoismus und Skrupellosigkeit hatte er schon immer besessen - immerhin hatte er versucht, ihre Kollegen nur zu seinem eigenen Wohl von einer Forschungsarbeit abzuziehen, die Abertausenden von Leuten helfen konnte. Dennoch hatte er auch nette Züge an sich gehabt, vor allem, wenn er sich nicht in der Gesellschaft dieses Drachen Sophie befand.
Doch seit er sich zu Experimenten an Menschen - und nicht einmal an Freiwilligen! - durchgerungen hatte, war es stetig bergab mit ihm gegangen. Sie alle waren nicht begeistert gewesen, als Mathis und Jim ihnen einen alten Mann anschleppten, an dem sie ihre Behandlungsmethoden erproben sollten.
Dr. Ben Willard, ihr Kollege von dem Institut, an dem sie das EU-Projekt durchgeführt hatten, ließ sich erst nach massiven Drohungen dazu zwingen.
»Es ist absurd«, hatte er aufbegehrt, »an jemandem eine Therapie zu testen, der nicht an der zu therapierenden Krankheit leidet. Das ist menschenverachtend! Wissen Sie überhaupt, was wir dem Erbgut der Probanden antun?«
»Das interessiert mich nicht«, hatte Milans Antwort gelautet. »Aber wenn Sie dieser Meinung sind, können Sie gerne auch gehen. Draußen werden sicherlich gute Ärzte gebraucht.«
Schnell hatte Willard klein beigegeben.
Als der erste Proband, dieser alte bärtige Kerl, an den Folgen der Behandlung gestorben war, hatte Willard sich aber geweigert, weitere Versuche an Menschen durchzuführen. Das war der Augenblick, in dem Roger Milan jegliche Hemmungen verloren hatte. Nach einem Wutausbruch, bei dem er sich regelrecht heiser geschrien hatte, überwältigten die Leibwächter den Arzt und bestimmten ihn zum Versuchsobjekt.
Wie betäubt hatten Diana Hoyt und ihre Kollegen die Experimente durchgeführt, aber keiner hatte es gewagt, Widerstand zu leisten. Keiner von ihnen hatte der Nächste sein
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