289 - Circus des Schreckens
Kammer mit dem leckenden Riss in der Wand lag«, lenkte Baran schließlich ab. Aber Elinja wusste, dass er es wieder probieren würde. Und ihr graute vor dem Tag, an dem auch seine Geduld und sein Anstand ein Ende finden würden und er sich nicht mehr nur mit Worten abspeisen ließ.
Die Clowns feierten gerade ihren Abschied mit lautem Sirenengeheul auf ihrem eingebildeten Feuerwehrauto und Elinja stand erneut im Licht des Scheinwerfers, lächelte dem Publikum aus den eigenen Reihen entgegen, wirbelte ihren schwarzen Spazierstock, den sie sich zum Wahrzeichen gemacht hatte, und kündigte die nächste Nummer an - Hochseilakrobatik. Es raubte ihr immer noch den Atem, wenn sie die Artisten hoch oben im Zirkuszelt auf den Drahtseilen balancieren sah.
Es brauchte einen durchtrainierten, gesunden Körper, um Konzentration und Gleichgewicht so lange halten zu können. Für das Training hatten die Menschen hier genügend Zeit, waren sogar dankbar, sich damit aufwärmen und ein paar Stunden ablenken zu können. Aber um die gesunden Körper machte Elinja sich ernsthafte Sorgen.
Das, was die Tiere befallen hatte, schien auch vor Menschen nicht Halt zu machen. Harun, einer von den Jongleuren und Feuerspuckern, war bei der letzten Show mit Krämpfen zusammengebrochen und hatte sich in seinem verzweifelten Ringen um Luft den Hals mit bloßen Händen blutig gekratzt.
Sie hatten unter den gut hundert Zirkuslagerbewohnern zwar auch Ärzte und Krankenschwestern, doch ohne ordentliche Medizin und Ausrüstung waren auch ihre Möglichkeiten begrenzt. Sicher hatten sie über die Jahre versucht, sich Material aus den Städten zu besorgen. Aber die Druckwelle und danach die Plünderer hatten wenig übrig gelassen. Noch lebte Harun, doch seine Chancen standen schlecht. Mehr als schlecht.
Nachdem Baran gänzlich von ihrer Seite gewichen war, um sich für seinen eigenen Auftritt fertig zu machen, schlich sich der geiernasige Geistliche heran. Die feigen Hunde nutzten zu gerne die Shows, um auf sie einzureden in dem Wissen, dass sie in diesen Momenten weder einfach fliehen noch Ohrfeigen verteilen konnte.
»Eine schöne Ansprache war das. Schön kurz, aber doch mit einer Portion Rührseligkeit«, wisperte der Alte mit seiner Fistelstimme. »Sie folgen dir, Elinja. Noch folgen sie dir, trotz des erbärmlichen Lebens hier. Das solltest du ausnützen, bevor sich der Wind dreht und dir scharf entgegen weht.«
Die selbsternannte Direktorin drehte ihre Hände knirschend um den Spazierstockschaft und stierte stur geradeaus auf die Seilaktnummer.
»Die Vorräte sind knapp! Du lässt mehr Leute an dem Zirkusprogramm teilnehmen, als du auf Beschaffungstour schickst. Von Spaß alleine kann man sich nicht ernähren. Von Staunen und Lachen wird einem in den Nächten nicht warm, wenn die Stürme heulen«, setzte der Bärtige in seiner leisen aber eindringlichen Rede nach.
Und tief drin in Elinjas Hinterkopf stimmte ein Teufelchen zu. Doch das würde sie diesen religiösen Hetzern als Allerletztes zeigen.
»Du bist eine gute Anführerin, das lässt sich nicht bestreiten. Du fängst sie mit deinem Charme und deinen leidenschaftlichen Worten ein, umgarnst sie, lockst sie wie Blumen die Bienen. Nutze deine Macht, Elinja. Vereinige die Grüppchen zu einem großen Stamm.«
»Blumen gibt es schon lange nicht mehr in dieser Gegend«, knurrte sie ihm entgegen. »Und auch keine Bienen mehr.«
»Aber unter deiner leitenden Hand, wenn man sich nicht mehr um die Ressourcen streiten muss, wenn alles sinnvoll nach bestem Wissen und Gewissen verteilt wird, dann…«
Elinja schnitt ihm das Wort mit einer harschen Handbewegung ab, als sich die Artisten das Seil hinab schlängelten und einen letzten Applaus ernteten. Sie linste über die Schulter zum Vorhang, sah Baran bereitstehen und trat ein weiteres Mal in die Mitte der Manege.
»Und nun, mein sehr verehrtes Publikum, darf ich Ihnen einen ganz besonderen Mann vorstellen. Einen, der sich nicht mit den üblichen Hanteln und Gewichten zufriedengibt. Nein, hier und heute sehen sie Baran, einen der stärksten Männer der Welt, wie er für Sie eine ganze…«, sie linste abermals nach hinten, um sich zu versichern, dass er die Nebenrollenbesetzung nicht in letzter Sekunde geändert hatte, »… wie er für Sie eine ganze Milchkuh anheben wird!«
Khalils Zögling und steter Helfer hatte sich tatsächlich zu einem passablen Nachfolger in der Gewichtheberkunst gemausert. Doch seine Posen wirkten stets diese Spur zu
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