Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
298 - Beim Ursprung

298 - Beim Ursprung

Titel: 298 - Beim Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
Vom Netzwerk:
heran, wo Tiisiv und die anderen die Wakudas angegriffen hatten.
    Keiner lebte mehr dort. Kein Nosfera, kein Stier, keine Kuh, kein Kalb. Die Teile menschlicher und tierischer Körper lagen über eine große Fläche umgepflügten und blutgetränkten Bodens zerstreut.
    ***
    Beim Ursprung, Anfang Mai 2527
    Ann hatte bis kurz vor dem Morgengrauen gewartet. Zu dieser Zeit schliefen alle im Dorf, und auch die wenigen Wachen waren längst nicht mehr so wachsam angesichts des nahenden Schichtendes.
    Sie trug einen langen Mantel aus Wakudaleder, darunter wollene Sachen, Stiefel und einen Schal. Trotzdem fror sie, doch die Kälte kam von innen. Die Angst, schutzlos in die feindliche Welt hinaus zu fliehen, kämpfte mit jener, im Dorf bei diesen Verrückten zu bleiben.
    Sie hatte wochenlang gezögert und mit sich gerungen. Nun, da der Schnee fast gänzlich weggetaut war, wagte sie es, packte einen Rucksack mit Proviant und ihren wenigen Habseligkeiten und verließ das Dorf. Wenn sie die erste Hügelkette überwunden hatte, war sie erst einmal außer Sicht. Bis dahin durfte sie nicht ausruhen.
    Noch eine halbe Stunde bis Sonnenaufgang.
    Ann Drax lief schnell, und dabei zitierte sie alle Flüche, die sie kannte, um sich selbst Mut zu machen. Ann kannte genug Flüche, hatte alle möglichen Arten zu fluchen gelernt: von den Hirten in Corkaich, von Fletscher, von Pieroo. Hin und wieder blickte sie zurück. Niemand hatte ihr Verschwinden bemerkt, keiner folgte ihr.
    Weiter, immer weiter.
    Die Dämmerung schritt voran, die Sonne ging auf. Sie erreichte die Hügelkuppe, ließ den Hang hinter sich.
    Einerseits hatte Ann nur eine vage Vorstellung von einem Ziel - weiter als bis zum Strand war sie nie gekommen, seit man sie aus dem schrecklichen Erdloch befreit hatte. Andererseits wusste sie genau, wohin sie wollte; oder besser: zu wem sie wollte.
    Zu ihrem Vater.
    Ann blieb keuchend stehen, drehte sich um und sah noch einmal zurück. Hinter den Bergen war die Sonne aufgegangen und glühte im Morgendunst wie eine reife Orange. Sie tauchte den Ort des Schreckens in ein wunderbares warmes Licht. Unter ihr lag das Dorf, das von dem Dach der riesigen Halle beherrscht wurde. Der Raureif auf dem Metall spiegelte das Licht gleißend hell wider, wie blankes Eis.
    Eis. Ann dachte an ihre Mutter. Ein Herz aus Eis hatte sie… hatten alle Dörfler aus Corkaich, so wie die anderen Menschen, die sich hier zusammengefunden hatten. Seitdem der Fluch der Versteinerung von ihnen abgefallen war, waren sie nicht mehr die alten. Als wären ihre Seelen noch immer versteinert. Ann, die damals vor den Schatten hatte fliehen können, wurde von ihnen als Fremdkörper betrachtet. Sie gehörte nicht dazu.
    Wieder dachte Ann an ihren Vater Matthew Drax. Sein Herz war weich geblieben und seine Augen waren voller Zärtlichkeit. Bei ihm würde sie sich geborgen fühlen…
    Etwas raschelte im Baum links neben ihr. Fast blieb ihr das Herz stehen, sie fuhr herum. Der Wald lag noch in tiefen Schatten. Glühte da nicht etwas in der Borke eines stämmigen Baumes?
    Ann wagte nicht zu atmen, lauschte und spähte reglos. Und plötzlich… wären die glühenden Punkte verschwunden. Waren es nur Glühwürmchen gewesen? Oder der Widerschein der Sonne, der Lichtreflexe auf den Stamm geworfen hatte? Ann blieb noch eine Minute stehen, dann entspannte sie sich und atmete durch.
    Weiter!
    Eine kühle Morgenbrise fuhr durch das Laub der Bäume und Büsche. Ein Vogel schrie in der Ferne. Letzte Schneereste dehnten sich zwischen Gras und Gestrüpp aus, so weiß wie der Sand der Dünen ein paar Kilometer weiter nördlich.
    Ann rückte den kleinen Rucksack zurecht, in dem sie etwas Wäsche, ein Fell für die Nacht und etwas zu essen eingepackt hatte. Um Wasser zu gewinnen, würde sie in einem Becher Schnee schmelzen.
    Und natürlich hatte sie ihr Tagebuch dabei, das sie seit Monden führte, und ein paar Stifte. Sie wusste auch schon, was sie bei der ersten Rast hineinschreiben würde. Die ersten Sätze hatte sie längst im Kopf:
    Heute Nacht bin ich aus dem Dorf der Verrückten abgehauen. Dort gibt es nichts, was mich hält, vor allem nicht, seit Mom mit dem Schiff davongefahren ist, um diesen Stein - Mutter! - zu holen. Ob sie mich überhaupt suchen wird, wenn sie zurückkommt? Ich glaube nicht. Ich bin ihr egal…
    Tränen schossen ihr in die Augen, und sie blieb stehen, um sie abzuwischen. Dabei blickte sie erneut hinter sich. Und erstarrte.
    Die Lichtpunkte schienen ihr zu folgen -

Weitere Kostenlose Bücher