3. Reich Lebensborn E.V.rtf
Das Pfeifen des radierenden Gummis. Der Knall der Wagenwand gegen den Gartenzaun. Schwester Barbara hält die Hände vor die Augen, Als sie wieder aufsieht, stemmen die Soldaten den LKW vom 288
Gartenzaun weg. Einige der Kinder wurden erfaßt. Tot. Es ging so schnell, und es ist so unfaßbar, daß es Klaus, der zu den Überlebenden gehört, nicht begreift. Er weint nur, weil sie alle weinen.
Die kleinen Toten waren notwendig, um das Gewissen eines Mannes aufzuwühlen. Der Obergefreite, der den blutverschmierten Wagen fährt, nimmt die Überlebenden und Schwestern auf. Als auch hier der Selbsterhaltungstrieb die erwachsenen Flüchtlinge antreibt, die Bordwände zu erklettern, treiben die Soldaten sie mit Fußtritten weg.
Das Endstadium der NS-Volksgemeinschaft ist erreicht. Aber ein Wagen mit Kindern und drei Schwestern rollt nach Nordwesten, den Engländern entgegen ...
Das Sammelbecken, in dem die Katastrophe zum Inferno gerinnt, heißt Berlin. Die Schleusen, die Deutschlands Soldaten auf ihrem Marterpfad passieren müssen, um endlich Zutritt zur Hölle zu bekommen, heißen Brandenburger Tor oder Leipziger Straße, Stettiner Bahnhof oder Alexanderplatz ... Der Unterschied ist nicht sehr groß. Weder der Sturmbannführer Kempe noch der Hauptmann Klaus Steinbach, die die Organisation des Desasters bei einer Einheit ließ, wissen genau, wo sie sich befinden. Die Trümmer am vornehmen Tiergarten sehen genauso aus wie die am roten Wedding. Rot ist ganz Berlin inzwischen. Rot von den Flammen, die durch die Straßen wüten, rot vom Mündungsfeuer russischer Kanonen, rot vom Blut, das den schmelzenden Asphalt färbt.
Irgendwo schimmert Wasser zwischen den Trümmermassen, hinter denen die beiden Offiziere und eine Handvoll Leute sich ein Maschinengewehr teilen. Was sie verteidigen, wissen sie längst nicht mehr. Sie sitzen am äußersten Rand der Schaufel, mit dem der Tod um sie gräbt. Am Vormittag hatten sie noch 30 Soldaten. Jetzt sind es noch sieben. Das Massensterben setzt 289
zum Endspurt an. Für Führer, Volk und Reichskanzlei, unter der der Führer noch lebt, während seine Soldaten verbluten. Ein Trupp Uniformierter springt über die rutschenden Schutthaufen. Kempe reißt das MG hoch.
»Welche von uns«, brüllt Klaus heiser.
Der Sturmbannführer setzt ab. Ein junger Offizier mit einem Milchgesicht rutscht auf sie zu.
»Gut, daß wir Sie finden«, sagt der Leutnant, »wir brauchen Hilfe.«
»Wir auch«, versetzt Kempe.
»Wir sollen die Schleusen zerstören«, fährt der Leutnant hastig fort, »dazu brauchen wir noch ein paar Mann.«
»Nicht von mir.«
»Was sollt ihr?« fragt Klaus Steinbach.
»Die U-Bahnschächte sollen absaufen, damit der Iwan nicht unterirdisch vorwärtskommt, Herr Hauptmann.«
Kempe fährt aus der Deckung hoch.
»Die Schächte sind doch vollgepfropft mit Menschen!«
In den Augen des Milchgesichts spiegelt sich der nächste Einschlag.
»Pech«, sagt es.
Kempes Backenmuskeln werden kantig.
»Das werden Sie gefälligst lassen!« faucht er den Leutnant an.
»Befehl vom Führer«, erwidert der junge Offizier zackig. Kempe rutscht auf den Ellenbogen vorwärts.
»Kein Mensch kann so etwas befehlen! Keiner! Auch nicht dieser Wahnsinnige!« sagt er leise.
Der Leutnant gibt seinen Männern ein Zeichen über die Schulter.
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»Also, Sie wollen uns nicht helfen, Sturmbannführer?« stellt das Milchgesicht fest.
Da dreht Kempe durch. Er reißt das MG hoch, richtet den Lauf, auf den Leutnant, der in die zuckende Dunkelheit wie ein Schatten gleitet. Das MG klickt, aber schießt nicht. Eine Hülse klemmt. Da schlägt Kempe mit den Fäusten auf die Waffe ein, bis sie bluten.
»Diese Schweine!« heult er.
Klaus will ihn beruhigen. Aber der Sturmbannführer faßt ihn derb am Kragen. In seinen Augen schimmert der Irrsinn.
»Wir müssen etwas tun ... hörst du! ... was tun ... Frauen ... Kinder ... saufen ab wie die Ratten ... wie die Ratten ...«
»Bleib«, sagt Klaus.
Sein Gesicht ist kalt. Seine Augen wirken glanzlos. Seine Schultern hängen leicht vornüber. Seine Hände zittern. Aber sein Verstand funktioniert. Er braucht nicht erst die Tragödie im U-Schacht zu erleben, um zu wissen, daß ein wahnsinniger Verbrecher Berlin in den Tod hetzt. Er weiß, daß er nichts machen kann, daß es für ihn nur noch eine Pflicht gibt, auch wenn sie keine Chance hat: durchzukommen, zu leben, mit Doris, in einer anderen Zeit. Und hier, zwischen den Trümmern geborstenen Größenwahns, weiß
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