3. Reich Lebensborn E.V.rtf
hoch, stellte den von der Anstrengung und dem Alkohol fast Bewußtlosen auf die klammen Füße und trieb ihn breitbeinig vor sich her wie ein Stück Vieh. Klaus wollte nicht. Da schlug Kempe zu. Mit der Faust. Einmal links. Einmal rechts. Half mit dem abgewinkelten Knie nach und drosch solange menschlichbarbarisch auf ihn ein, bis er wieder mit eigener Kraft gehen konnte.
Jetzt erst erkannte Klaus Steinbach in der SS-Uniform Horst Kempe.
Die Dämme brechen. Die tosenden Wogen des Untergangs schlagen auch über dem Lebensborn-Heim in SüdMecklenburg zusammen, in dem der jetzt dreijährige Klaus Steinbach aufwächst, ohne etwas von seinen Eltern zu wissen. Der Wald, der das Heim umgibt, schweigt nicht mehr, und der See ist nicht mehr still. In seinem Wasser treiben die Requisiten der rasenden Flucht. Im Schilf schaukeln rostende Stahlhelme. Durch den Wald ächzen die hochbeladenen Wagen der endlosen Trecks. Verlorene Rufe. Versickerndes Weinen. Manchmal rütteln dürre Soldatenfäuste am Gatter des Hauses. Dann verlangen blutjunge oder steinalte Soldaten ein Glas Wasser.
Der lange First des Hauses duckt sich, als zöge das Gemäuer den Kopf ein. Wenn das dumpfe Rollen der wandernden Front sich über die Felder wälzt, dann läßt die Heimleiterin die Jalousien schließen. Im übrigen will sie nicht sehen, nicht 286
hören, nicht wissen, was alle längst wissen.
»Wir tun unsere Pflicht für den Führer, wo wir stehen«, erklärte sie ihren Schwestern.
Noch immer erzieht sie Kinder im Namen eines Mannes, der bald sein Programm im Hof der Reichskanzlei durch Selbstmord quittieren wird.
Dann bröckelt das Heim auseinander. Die Panik geht um. Soldaten und Flüchtlinge bringen Greuelnachrichten mit. Schwester Adelheid ist die erste, die verschwindet. Die braune Tracht bleibt zerknüllt zurück. Mit ihr zehn kleine Kinder. Das Beispiel macht Schule. Dreimal. Viermal. Die zurückbleibenden Pflegerinnen werden mit ihrer Aufgabe nicht mehr fertig. Die Kinder hungern und verwahrlosen. Das hilflose Weinen und das klägliche Schreien reißen nicht mehr ab.
Die Kleinen, die ein verblendeter Staat züchten wollte, werden Inflationsgut des Elends. Aus den Kronprinzen des Dritten Reiches werden Kinder, die keinem gehören und keinem gehört haben sollen. Als ihre letzte Tat vernichtet die Heimleiterin die Akten ihrer Zöglinge. Dann leitet sie angeblich die Rückführung der Kinder ein. Unter diesem Vorwand flüchtet sie.
Die gräßliche Wanderschaft des lebenden Strandgutes beginnt. Auf zwei Pferdefuhrwerken. Sie werden hochbeladen mit winselnder, lebender Fracht. Die älteren Kinder, wie Klaus Steinbach, sehen mit großen, schreckhaften Augen in ihre zurückbleibende Welt, aus der sie derb herausgerissen werden. Es geht zum Bahnhof. Ein letzter Transport soll nach Nordwesten abgehen.
Der kleine Klaus preßt seinen Teddybären eng an sich, als er auf den Wagen gehoben wird. Die kindlichen Lippen sind fest aufeinandergedrückt.
»Tante«, fragt er Schwester Barbara, der es zu verdanken ist, 287
daß die Kinder sich bis zum Eintreffen der Russen nicht einfach selbst überlassen bleiben, »warum sehen denn die Männer alle so böse aus?«
Als der Wagen anruckt, bekommt das Kind einen Stoß. Sein Bär gleitet ihm aus den Armen, fällt über den Wagenrand. Klaus streckt verzweifelt die kleinen Arme. Die großen Räder mahlen vorwärts. Auf der zertrampelten Kiesauffahrt bleibt ein lappig gewordenes Stofftier liegen. Sägemehl quillt in die Radspuren.
»Mein Bär«, schreit der kleine Klaus entsetzt. Aber es gibt niemanden, der auf ihn hört, keinen, der Zeit hätte, auf ein Kinderherz zu achten, das zusammen mit einem Teddybären überfahren wird.
Das ist viel schlimmer für das Kind als das Unglück eine Stunde später. Am überfüllten Bahnhof, den die Erwachsenen nicht für die Kinder freimachen wollen. Deshalb warten sie dicht aneinandergedrängt auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.
Endlich läuft ein Zug ein. Seine Lokomotive qualmt den Ruß
der schlechten Kriegskohle aus. Die Wagen werden gestürmt. 40 schwache Kinderleiber haben keine Chance. Als der Zug anrollt, ruft ein Fünfjähriger:
»Lokomotive!«
Er macht sich von Schwester Barbara los, läuft auf die Straße. In einen Heereslastwagen hinein. Der Fahrer will in letzter Sekunde ausweichen. Er streift den Jungen nur mit dem Hinterrad. Aber dabei kommt er ins Schleudern. In dem Tumult an den Waggons geht der dünne,
vielstimmige Kinderschrei unter.
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