3. Reich Lebensborn E.V.rtf
kleinen festen Schritten über die Gleise und über die armseligen Kleiderbündel der anderen. In seinem blonden Haar spielt der Wind.
Aus dem Lautsprecher plärrt Musik. Westroff-Meyer pfeift mit. Der erste Schub betritt die Gaskammer. Es dauert nicht lange. Aber dem Posten geht es nicht schnell genug. Der zweite Schub. Diesmal ist die Mutter des kleinen Kindes dabei. Der Junge bleibt stehen, als ob er plötzlich erfassen würde, was man ihr antut.
»Mama«, wimmert er.
»Mama gleich kommen«, antwortet der Sturmbannführer lächelnd.
In diesem Moment zischt das Gas aus den Ventilen. Die Mutter stirbt. Zwei oder fünf Minuten lang. Mit einem Gebet für ihr Kind auf den Lippen. Zu einem Fluch für ihre Mörder bleibt ihr keine Zeit.
»Groß ist die Ausbeute nicht«, sagt Westroff-Meyer zu dem Lagerkommandanten.
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»Denken Sie, wir sind hier ein Kindergarten? Ich bin kein Freund davon, hier den Vorgang zu komplizieren ...«
»War ja nur ein Versuch«, entgegnet der Sturmbannführer versöhnlich. Dabei reibt er sich die Hände mit den zu kurz geratenen Fingern. Ich bin doch ein Mensch, lobt er sich zynisch selbst, ich hab’ dem sicheren Tod noch ein Kind abgekauft.
Und ein blondes dazu noch.
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12. KAPITEL
Dann ist Doris wieder beim RAD. Ihr Entlassungsgesuch vermodert in einer Schublade. Die junge Frau kommt in ein Lager, das abseits liegt und in dem die Insassen weniger mit Schrubber und Spitzhacke als mit leichten Büroarbeiten beschäftigt werden. Die Verpflegung ist gut, die medizinische Betreuung läßt nichts zu wünschen übrig. Das Lager wird von einer ältlichen Führerin geleitet, die Doris zum Rapport befohlen hat.
»Ich habe Sie rufen lassen«, beginnt sie, »weil ... weil ...«
Sie nestelt fahrig an ihrer germanischen Haartracht. Seltsam, denkt Doris, daß sich viele dieser ›WaIküren‹ irgendwie ähneln: spitznasiges Gesicht, eckige Figur, uncharmante Stimme, fahle Gesichtshaut, die mehr und mehr die Farbe des Uniformrocks annimmt.
Doris weiß, warum man sie rief. Ihr Blick bleibt offen. Auf dem Schreibtisch der Vorgesetzten liegt ein ärztlicher Bericht. Die Untersuchung fand vor zwei Tagen statt. Doris kennt das Ergebnis längst und ist so glücklich darüber, daß ihr nicht einmal mehr das schiefmäulige Lächeln der Führerin etwas anhaben kann.
»Na, schön«, sagt die Führerin, »da läßt sich nun nichts daran ändern.«
»Wie bitte?« fragt Doris ruhig.
»Ich habe Ihnen zu eröffnen«, antwortet die Lagerleiterin,
»daß Sie ein Kind bekommen.«
»Ich weiß.«
»Sie wissen?«
»Ja«, erwidert sie behutsam, »ich bin doch nicht aus Stein.«
Die Lagerführerin läuft rot an.
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»Ich habe Sie nicht danach gefragt«, entgegnet sie spitz. Ihr Gesicht wirkt verkniffen. »Vorläufig bleiben Sie bei uns«, fährt sie fort.
Doris hört schweigend zu. Mit geschlossenen Lippen. Mit glänzenden Augen.
»In der heutigen Zeit kann man nicht feiern, bloß weil man ein Kind erwartet«, schnarrt die Lagerleiterin. »Sie sind Führernachwuchs. Sie bleiben. Wenn es so weit ist, kommen Sie in ein Heim.«
»In welches Heim?« fragt Doris.
Die Führerin glättet nervös das Papier des
Untersuchungsberichts. Ihre Hand bleibt auf dem Vermerk liegen, der besagt, daß ein Durchschlag an die Zentrale des Lebensborns geschickt wurde.
Doris lächelt in sich hinein. Es ist ihr gleichgültig. Ihr Leben hat einen neuen Sinn. Seit ihr Leben diesen Sinn bekam, sind tausend Wichtigkeiten des Alltags zu einer einzigen Nebensächlichkeit geworden. Sie lächelt fester.
»Worüber lachen Sie?« fragt die RAD-Führerin scharf.
»Ich bedanke mich für die Sorge, die Sie sich um mich machen.« Sie spricht ohne Ironie.
Die Lagerleiterin betrachtet sie wütend. In ihren Augen funkelt etwas, Neid vielleicht oder Verachtung.
»Gut ...«, sagt sie heftig, »erledigt.«
Doris geht mit schmalen, tastenden Schritten. Von jetzt ab mißt sie die Zeit nach Herzschlägen und Feldpostbriefen. Und ihre ganze Erscheinung spiegelt das Wunder des Lebens wieder: ihr Gesicht wird fraulicher, aber nicht älter; ihre Augen leuchten in innerem Glanz, aber sie bleiben wach. In den folgenden Monaten verwandelt sich eine junge Frau in eine zärtliche Mutter.
Dann wird Doris in Marsch gesetzt ...
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Das Heim liegt in Pommern. In der Nähe der Ostseeküste. Am Rande einer Kleinstadt. Der Park steht voll alter Bäume. Den weißgetünchten, niedrigen Bau sieht man nur undeutlich hinter den Stämmen. Die Auffahrt ist
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