3. Reich Lebensborn E.V.rtf
hier nicht als Ihr Arzt«, fährt er hastig fort,
»sondern als ein ... Mensch ... der Ihnen helfen ...«
»Was ist?« unterbricht ihn Doris. Ihre Stimme vibriert.
»Bitte, ganz ruhig bleiben, ich ... ich muß Sie warnen ...«
»Warnen?«
»Ja«, versetzt der Arzt schwer.
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»Wovor?«
Dr. Jessrichs Augen bleiben am Boden.
»Man will Ihnen Ihr Kind nehmen ... es soll in ein Heim kommen ... ich sollte die Einweisung unterschreiben ... ich habe es abgelehnt ... aber ...«
Die Worte kippen von einem hohen Rand in den Abgrund, der Doris verschlingen will. Sie begreift nicht, sie hört die Sätze entfernt, und dabei schneiden sie ihr in die Haut. Aber sie nimmt sich zusammen. Sie spürt instinktiv, wie menschlich Dr. Jessrich ist.
»Bitte«, sagt sie mit zu hoher Stimme, »sagen Sie alles, Herr Doktor.«
»Westroff-Meyer ...«, beginnt Doktor Jessrich. Da begreift Doris alles. Die Decke, unter der sie liegt, hebt und senkt sich. Der Arzt streicht ihr vorsichtig über den Kopf, und die junge Frau wird auf einmal ruhig, stark, denkt klar, schnell.
»Was werden Sie tun?« fragt Dr. Jessrich.
Ihre Lippen bewegen sich, aber sie zittern nicht mehr.
»Ich gehe ... morgen ... mit meinem Kind ...«
»Ja«, antwortet der Arzt.
»Ich lasse es mir nicht nehmen«, antwortet Doris leise.
»Ich ... wünsche Ihnen viel Glück«, entgegnet Dr. Jessrich weich.
Doris gibt ihm die Hand.
»Handeln Sie schnell, Frau Steinbach!«
Er steht auf, ist in der Mitte des Raumes.
In diesem Moment fährt Frau Kempe hoch.
»Ich hab’ nicht geschlafen, Doktor ... Verdammt noch mal, ich hab’ nicht geschlafen! ... Das ist ja ... sagen Sie ... dafür kämpfen wir ... mein Mann? Daß man mit seinem eigenen 226
Kinde fliehen muß?«
Der Arzt nickt.
Und in dieser Sekunde erkennen drei Menschen klar und endgültig, daß das System keine Politik, sondern ein Verbrechen ist.
Frau Kempe steht auf, setzt sich zu Doris ans Bett.
»Ich helfe Ihnen«, sagt sie, »das ist klar.«
Die letzte Stunde verrinnt wie im Fieber. Doris wartet bis zum Mittag. Um ein Uhr gehen die Schwestern essen. Frau Kempe hat sich einen Liegestuhl in den Garten stellen lassen. Sie schläft nicht, sie beobachtet. Doris zieht sich unbemerkt an. Ein paarmal stützt sie sich gegen den Schrank. Sie ist doch noch schwächer, als sie annahm. Sie spürt ihr Gewicht in den Knien. Die Narbe zieht. Aber was ist dieser Schmerz, gemessen an Angst, Sehnsucht und Hoffnung?
Um neun Uhr morgens brachte man ihr Klaus. Sie flüsterte tausend Worte in sein Ohr, die er quietschend verstand. Es war eine Verschwörung.
»Weißt du«, hatte die junge Mutter gesagt, »heute machen wir unseren ersten, gemeinsamen Streich ... wir laufen einfach weg ...«
Doris weinte, als man das Kind zurückbrachte. Sie mußte sich abwenden. So bemerkte sie das verstörte Gesicht der Schwester nicht.
Jetzt sieht Doris auf die Uhr, übt Schritte, ist entschlossen, ihre Sachen hierzulassen. Sie muß den Kleinen tragen. Nur das Nötigste mitnehmen. Wenn Klaus das wüßte, überlegt sie, ich werde ihm gleich telegrafieren, wenn alles gelungen ist. Fünf Minuten nach ein Uhr geht Doris über den Korridor. Der Gong rief zum Mittagessen. Sie zwingt ihre Beine, auch wenn der Flur uferlos erscheint. Sie kennt den Weg, das Kinderzimmer, das Bettchen, den Jungen. Unter Tausenden 227
würde sie ihn auf den ersten Blick finden ... Sieben Minuten nach ein Uhr gellt ein unheimlicher Schrei durch das Haus, reißt die Patienten aus den Liegestühlen, läßt die Schwestern vom Mittagstisch auffahren.
So finden sie Doris, zusammengebrochen vor dem Bett ihres Kindes, vor der einzigen leeren Wiege des Hauses. An der Schwester, die sie aufrichten will, krallt sie sich fest. Ihr Gesicht ist ein einziges, zuckendes Entsetzen. Doris spricht wie im Fieber, flüsternd, schreiend, immer das gleiche:
»Wo ist mein Kind ... Wo ist es? ... Sagen Sie es! Ihr habt mir mein Kind genommen ... Wo ist mein Kind? ...«
Der Zusammenbruch gibt Doris Kräfte, die sie nicht kennt, die sie nie besaß.
»Wo ist mein Kind?« schreit sie.
Die Schwestern starren auf den Boden. Die Oberin fuchtelt mit den Armen.
»Aber, nun beruhigen Sie sich doch ... wird sich ja alles finden ...«, tröstet sie schwächlich.
Doris schluckt. Wieder gleiten ihre Augen über die kleinen Betten, von denen nur eins leer ist.
Da schlägt Doris um sich. Die Schwestern kreischen. Drei, vier stürzen sich auf sie, brauchen lange, bis sie sie
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