30 - Auf fremden Pfaden
Es handelt sich um ein Geheimnis, welches nur du allein heute erfahren darfst. Hast du einige Fananir (Papierlaternen)?“
„Ja.“
„Hole sie, und folge mir! Es ist Wichtiges geschehen.“
„Was? Wer bist du? Ich kenne dich nicht.“
„Du wirst es von ihm selbst erfahren. Beeile dich! Es darf keine Minute verloren werden.“
Der sehr bestimmte Ton, in welchem ich sprach, und die Pistolen hatten die beabsichtigte Wirkung; er holte mehrere Laternen, zündete eine davon an und ging mit. So sehr er unterwegs Auskunft von mir forderte, ich gab sie ihm nicht; doch als wir an Ort und Stelle waren, sagte ich ihm, daß er mein Gefangener sei, aber nichts zu befürchten habe, falls er sich ruhig bis zum Morgen verhalte. Er wurde auch gebunden, ehe er sich versah; dann steckten wir alle Laternen an, so daß Licht genug vorhanden war, alles zu sehen.
Nun fiel zunächst der Scheik der Muntefik in den heftigsten Vorwürfen und Schmähreden über den Scheik der Handhala her; ich ließ ihn einige Zeit gewähren; dann aber, als er gar nicht aufhören wollte und es zu toll trieb, gebot ich ihm mit den Worten Ruhe:
„Nun laß es endlich gut sein! Es handelt sich bei dir um eine Beleidigung, für welche du Abbitte oder irgend eine für ihn ungefährliche Strafe verlangen kannst, nicht aber um etwas, was den unbedingten Tod erfordert. Hier aber steht der Bluträcher, welcher das Leben dieses Gefangenen fordern kann. Laß ihn nun auch zu Wort kommen!“
Ich deutete dabei auf Omar, welcher, seit Abd el Kahir gefangen war, kein Wort gesagt hatte. Jetzt trat er näher und blickte ihm finster in das Gesicht. Ich gab Halef einen heimlichen Wink. Dieser verstand mich und ging unauffällig fort, um Zarka herzubringen.
„Du hast den Bruder meines Weibes ermordet“, sagte jetzt Omar; „ich bin der Rächer. Kennst du das Gesetz, welches lautet: Blut um Blut, Leben um Leben?“
„Töte mich!“ antwortete der Gefragte. „Allah hat mich durch diesen Kara Ben Nemsi Emir in deine Hand gegeben. Er hat mir die Freude meines Lebens, mein einziges Kind, den Sohn meines Alters genommen; jetzt ist für mich aller Sinn des Daseins geschwunden, und ich wäre dir nur dankbar dafür, wenn du mir eine Kugel gibst.“
Das hatte Omar nicht erwartet; er kam dadurch in Verlegenheit. Er wollte den Gefangenen strafen, nicht ihm aber eine Wohltat erweisen. Er blickte erst ihn und dann auch mich ratlos an.
„Schieß ihn tot, oder nimm das Messer, Omar!“ forderte ich ihn auf.
Seine Verlegenheit wuchs. Er wollte Rache, aber ein Henker zu sein, einen Wehrlosen zu töten, das fiel ihm nicht ein.
„Ich verstehe dich“, fuhr ich fort. „Ja, wärst du ein Christ, so könntest du dich fürchterlich rächen, indem du glühende Kohlen auf sein Haupt sammeltest.“
Er blickte unentschlossen vor sich nieder. Da bäumte sich der Gefangene unter seinen Fesseln und trotz seines Beinbruchs auf und stieß einen lauten, unartikulierten Ruf aus. Sein Weib war gekommen, den Knaben an der Hand. Sie kniete neben ihm nieder und hielt ihm das Kind zum Kuß hin. Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich seiner. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen, und er schrie mit einer Stimme, welche schier unmenschlich klang:
„Er lebt, mein Sohn, er lebt! Emir, laß mir die Hände los, gib sie mir nur einen Augenblick, einen einzigen Augenblick frei, damit ich mein Kind umarmen, nur einmal berühren, nur einmal streicheln kann!“
Ich bückte mich nieder und band ihm die Arme los. Da griff er zu und zog den Knaben an das Herz, liebkoste ihn wie närrisch, gebärdete sich wie wahnsinnig, zog dann auch die Frau an sich und rief:
„Ich habe dich verstoßen; ich nehme dich wieder auf. Du bist wieder mein Weib, mein teures, gutes Weib.“ Und voll Angst fügte er hinzu: „Willst du es nun auch wieder sein?“
Sie nickte unter Tränen; sprechen konnte sie nicht.
„Ich habe dich zwar freigegeben, also bist du auch frei“, fuhr er fort. „Aber wir gehen zum Kadi und lassen uns – – –“
Er hielt plötzlich inne; es fiel ihm ein, in welcher Lage er sich befand, daß er sein Leben verwirkt, ja sogar um seinen Tod gebeten hatte.
„O Allbarmherziger, das ist nun aus!“ klagte er. „Der Blutpreis! Ich will ihn zahlen; ich kann, ich kann nicht sterben!“
„Und du stirbst doch!“ antwortete Omar.
Da nahm ich den blauäugigen Knaben seinem Vater aus den Händen, gab ihn Omar hin und sagte:
„Dieser bittet für ihn; er ist sein Sohn. Du hast
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