302 - Wo der Wahnsinn regiert
hatte. Jetzt war nur Xij wichtig.
Rudowigu beugte sich über sie, zog ihre Lider nach unten, ertastete ihre Halsschlagader, dann richtete er sich wieder auf, griff in seine Tasche und zog eine Pille heraus, die er selbst hinunterschluckte. Er sagte etwas auf Japanisch.
Stefaan lächelte freundlich und übersetzte: »Seine Majestät Rudowigu wird später nach der Patientin sehen. Sie ist stabil genug. Zuerst müssen Sie in den Thronsaal, Herr Drax, um der Etikette Genüge zu tun.«
»Der Etikette ?«, echote Matt. War dieser Rudowigu denn vollkommen irre? Was war das für ein Arzt, der sich wie König Ludwig kleidete, höfische Formen pflegte und seine Patienten quasi nebenbei versorgte?
Sein Blick fiel auf seine noch immer bewusstlose Begleiterin. Er hatte keine andere Wahl, als darauf zu vertrauen, dass der Mann Xijs Zustand richtig einschätzte und ihr helfen konnte, auch wenn ihm dessen Gebaren alles andere als gefiel.
***
Nipoo, Sub-Kita, 2503
Die Welle stieg an. Sie wurde hoch und immer höher. Hunderte von Metern bäumte sie sich auf. Die Grundfesten der Erde erschütternd, raste sie über das Meer auf das Land zu. Der Mann am Ufer schrie. Wie paralysiert starrte er die Welle an: eine Wand aus Wasser, hart wie Beton, die nach den nächtlichen Sternen griff. Die Erdstöße, die mit ihr einhergingen, warfen ihn zu Boden. Er riss die Hände über den Kopf, dann war es vorbei. Seine Apokalypse kam über ihn.
Die Welle bäumte sich auf, wie es Schlangen taten, ehe sie sich auf ihre Opfer stürzten. Das Wasser zerschmetterte ihm Knochen und Sehnen. Er war kaum mehr als eine Puppe mit verdrehten Gliedern, die zwischen zerbrechenden Hochhäusern herumgeschleudert wurde. Es gab nichts, das sich der brachialen Gewalt der Wassermassen entgegenstemmen konnte. Nippon war verloren, das Land vom Wasser besiegt...
Masao Tanako fuhr auf seiner Pritsche in die Höhe. Er atmete schwer. Wie in Trance griff er nach dem Glas Wasser, das neben ihm auf einem Nachttisch stand, der ebenso wie das Bett an die Wand geklappt werden konnte, um den engen Wohnverhältnissen gerecht zu werden.
Masao nahm einen tiefen Schluck und sah sich um. Wie immer war er allein erwacht in dem größten aller Räume, den er allein bewohnen durfte. Seine derzeitige Zuchtfrau Sakur hatte nur stundenweise Zugang und lag längst in ihrem Lager bei den anderen gebärfähigen Frauen.
Die Welle. Er dachte zurück an das Szenario, das ihn immer wieder heimsuchte. Es war ein Traum und somit unwichtig. Was bedeuteten schon die Bilder der Nacht? Wenn er schon wach war, sollte er sich lieber auf Wesentlicheres konzentrieren. Es gab eine Aufgabe, die vor ihm lag.
Sein Bruder Akuma hatte einen Antrag gestellt, den Bunker zu verlassen. Nachdem es erste Medikamente gab, um an der Oberfläche zu überleben, zog es seine Leute hinauf an die frische Luft. Schon öfter hatte sich Akuma freiwillig für Spähtrupps zur Verfügung gestellt und die Lage an der Oberfläche erkundet.
Bei diesen Gedanken lief Masao ein Schauer über den Rücken, der seine Haut prickeln ließ. Wie konnte man sich nur freiwillig melden, das Antlitz dieses zerstörten Planeten zu sehen, der einst so prächtig gewesen war? Aber er brauchte Leute wie Akuma. Noch immer verfolgte er seinen Plan, und Akuma war der ideale Mann, seinen Zielen zu dienen.
Vorsichtig griff Masao unter sein Kissen und zog eine Postkarte hervor, die in eine dünne Plastikfolie eingeschweißt war. Darauf war ein filigranes weißes Schloss mit spitzen Türmen und Bogenfenstern zu sehen. Es war eingefasst in einen prächtigen Herbstwald aus Rot und Gold, und hinter den hohen Zinnen schimmerte ein türkisfarbener See.
»Es ist schon einmal getan worden«, flüsterte er und drückte das Bild an seine Brust. »In Cinna haben sie es getan, und ich werde es wieder tun.« [4]
Erneut atmete er tief ein. Der Traum der alles verschlingenden Welle war verdrängt.
***
Nipoo, Sub-Kita, 2505
Akuma hob eine tätowierte Augenbraue. Wie immer war er ohne Ankündigung in die Arbeitszelle getreten. Seine Stimme klang missbilligend. »Du studierst schon wieder die Bildbände? Kennst du sie nicht längst auswendig?«
Masao Tanako sah seinen Bruder argwöhnisch an. Akuma war ein Problem. Er war zu aufmüpfig und gab ihm, dem obersten Kommandanten des Bunkers, viel zu häufig Widerworte. Er legte den Bildband über Neuschwanstein neben einer Biografie Ludwig des Zweiten ab und sah den drei Jahre Jüngeren geringschätzig an. »Was
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