307 - Späte Vergeltung
es dich angemacht, als sie geschrien und gebettelt und gefleht hat? Als sie sich vor Scham und Demütigung unter dir zusammengekrümmt und ihre Verzweiflung in die Kissen geweint hat? Oder war es für dich am schönsten, als mich der Henker in deinem Auftrag hingerichtet hat?«
Chan sah sie nun voller Entsetzen an. Er zitterte und hatte den Mund leicht geöffnet. »Du? Das warst... du?«
»Ja, ich!«, brüllte Xij, und nun brachen endgültig alle Dämme. » Ich war damals Francesca. Verstehst du? Das alles hast du mir angetan, du mieses Schwein.«
Chan war gänzlich verwirrt. »Aber wie...?« Mehr brachte er nicht hervor.
»Ich kann nicht sterben!«, schmetterte ihm Xij entgegen. »Mein Körper vergeht, aber mein Geist sucht sich einen neuen. Immer und immer wieder. Dein Henker konnte die Erinnerung an Francesca nicht löschen. Ich wusste: Eines Tages würde ich dich erwischen!«
Chan schluckte ein paar Mal schwer. Seine Barthaare bebten mit seiner Oberlippe. »Wie ist das nur möglich?«
Xij lachte kurz und humorlos. »Ganz einfach: Ich bin eine Geistwanderin, unsterblich seit Millionen von Jahren. Im Mittelalter war ich Francesca Totti, Niccolò Polos Geliebte. Und in einem noch früheren Leben Orplidius, der Chefwissenschaftler Atlassas...«
»N-nein...« Chans Gesicht war jetzt aschgrau. »Das... das ist ein Trick!«
»Meinst du? Kurz vor dem Untergang Atlassas hatte ich heimlich die Elite evakuiert, fiel aber selbst den zerstörerischen Gewalten zum Opfer. Erst als Francesca fand ich dann die Spur der Überlebenden und schlug mich nach Tibet durch. ›Agartha‹ war eines der atlassischen Orakel; so kam ich darauf. Ich ging dorthin, um die Nachfahren alter Freunde zu finden, doch man schloss mich an die Gedankensphäre an, um mir meine Geheimnisse zu entreißen. Ich konnte fliehen, aber meine bis dahin gelebten Existenzen blieben in der Sphäre zurück – in die du eingedrungen bist, um deine animalischen Triebe zu befriedigen! Als ich als Xij nach Agartha kam, riefen mich meine früheren Leben und kehrten in mich zurück. Auch die Erinnerung an Francesca und was du ihr angetan hast!«
Chan war nun aschfahl. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Er glaubte Xij – was hätte er auch sonst tun können? Sie wusste um Dinge, die sonst kein Mensch wissen konnte. »Was... hast du jetzt mit mir vor?«, fragte er.
***
Canduly Castle
Der neue Tag erwachte mit einem atemberaubenden Morgenrot, das den ganzen Himmel überzog. Ein Teil der Gefangenen, allesamt Männer, darunter Matthew Drax, hatten sich an der Fensterfront aufgereiht. Mit teils finsteren, teils angsterfüllten Blicken schauten sie auf den Burghof hinab, der sich unter ihnen ausbreitete. Das Morgenrot tauchte ihn in geheimnisvoll glühendes Licht.
Wirkt fast ein bisschen wie die Hölle, dachte Matt und schluckte schwer. Dann wandte er unwillkürlich den Kopf. Ayrin saß auf dem Rand des mächtigen Kamins und starrte blicklos in den Raum. Um sie herum saßen und standen die Frauen von Canduly Castle. Sie alle konnten und wollten nicht mit ansehen, was sich unten auf dem Burghof abspielte. Turner hätte gerne geschaut, aber ein scharfer Befehl seiner Mutter hielt ihn davon ab.
Matt sah wieder nach draußen. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, er spürte ein Kribbeln überall im Körper.
Zwei Exekutoren führten Rulfan auf den Burghof. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, den Kopf hielt er stolz und trotzig erhoben. In der Mitte des Hofes wartete der Henker auf ihn – Ninian selbst mit ihrem Flügelschwert.
Rulfan blieb stehen und sagte etwas, das man auf diese Entfernung nicht verstehen konnte. Da er dabei aber zu Myrial hinübersah, die von Wachen flankiert an einer Seite stand, konnte man sich denken, um was er bat.
»Wenn ich nur eine Waffe hätte«, knurrte Matt ohnmächtig. »Aber die haben die Exekutoren ja alle eingesammelt.«
»In meinem Zimmer hätte ich noch eine«, meinte Meinhart Steintrieb.
Matt runzelte die Stirn. »Eine Waffe? Du?«
»Das Hubschraubermodell«, erklärte der Retrologe. »Es fliegt zwar noch nicht, aber der draufmontierte Laser ist intakt.« Er hob resignierend die Schultern. »Aber was nutzt uns das, wenn wir hier nicht rauskommen?«
»Ich weiß einen Weg«, meldete sich Turner zu Wort. Unbemerkt hatte er sich zu ihnen gesellt und gelauscht – eine seiner liebsten Beschäftigungen. »Es gibt einen Geheimgang.«
Matt fiel die Kinnlade herab. »Hier im Raum? Und das sagst du erst jetzt?
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