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die ein mulmiges Gefühl in mir auslösten. Da waren die vielen Stalker, die Liebesbriefe, Heiratsanträge und die anonymen, perversen Briefe. Aber auch die Hilfsangebote zeigten, worum es vielen im Innern ging. Es ist ein menschlicher Mechanismus, dass man sich besser fühlt, wenn man einem Schwächeren, einem Opfer, helfen kann. Das funktioniert, solange die Rollen klar verteilt sind. Dankbarkeit gegenüber dem Gebenden ist etwas Schönes; nur wenn sie missbraucht wird, um den anderen nicht zur Entfaltung kommen zu lassen, bekommt das Ganze einen schalen Beigeschmack. »Sie können bei mir wohnen und mir im Haushalt helfen, ich biete dafür Kostgeld und Logis an. Ich bin zwar verheiratet, aber wir werden uns schon arrangieren«, schrieb ein Mann. »Sie können bei mir arbeiten, damit Sie putzen und kochen lernen«, so eine Frau, der diese »Gegenleistung« völlig ausreichend schien. Ich hatte in den vergangenen Jahren wahrlich genug geputzt. Nicht, dass man mich falsch versteht. Ich freute mich zutiefst über jede ehrliche Anteilnahme und jedes ehrliche Interesse an meiner Person. Aber es wird dann schwierig, wenn meine Persönlichkeit auf ein hilfsbedürftiges, gebrochenes Mädchen reduziert wird. Das ist eine Rolle, in die ich mich nicht gefügt habe und die ich auch in Zukunft nicht annehmen möchte.
Ich hatte all dem seelischen Müll und den dunklen Phantasien Wolfgang Priklopils getrotzt, mich nicht brechen lassen. Nun war ich draußen, und man wollte genau das sehen: einen gebrochenen Menschen, der nie mehr aufstehen wird, der immer auf die Hilfe anderer angewiesen sein wird. Doch in dem Moment, in dem ich mich weigerte, dieses Kainsmal für den Rest meines Lebens zu tragen, kippte die Stimmung.
Missbilligend nahmen die hilfsbereiten Menschen, die mir ihre alten Kleider geschickt und eine Putzstelle in ihren Wohnungen angeboten hatten, zur Kenntnis, dass ich nach meinen Regeln leben wollte. Schnell machte die Runde, dass ich undankbar sei, und sicher aus allem Kapital schlagen wollte. Man fand es eigenartig, dass ich mir eine Wohnung leisten konnte, die Mär von horrenden Interviewsummen machte die Runde. Schleichend schlug die Anteilnahme in Missgunst und Neid um - und manchmal sogar in offenen Hass.
Am wenigsten verzieh man mir, dass ich den Täter nicht so verurteilte, wie es die Öffentlichkeit erwartete. Man wollte von mir nicht hören, dass es kein absolutes Böses gibt, kein klares Schwarz und Weiß. Sicher, der Täter hatte mir meine Jugend genommen, mich eingesperrt und gequält - doch er war die entscheidenden Jahre zwischen meinem elften und meinem 19. Lebensjahr auch meine einzige Bezugsperson gewesen. Ich hatte mich durch meine Flucht nicht nur von meinem Peiniger befreit, ich habe auch einen Menschen verloren, der mir zwangsläufig nah war. Aber Trauer, auch wenn sie schwer nachvollziehbar sein mag, gestand man mir nicht zu. Sobald ich begann, ein etwas differenzierteres Bild vom Täter zu zeichnen, verdrehte man die Augen und sah weg. Es berührt die Menschen unangenehm, wenn ihre Kategorien von Gut und Böse ins Wanken geraten und sie damit konfrontiert werden, dass auch das personifizierte Böse ein menschliches Antlitz hat. Seine dunkle Seite ist nicht einfach so vom Himmel gefallen, niemand kommt als Monster auf die Welt. Wir alle werden durch unseren Kontakt mit der Welt, mit anderen Menschen zu dem, was wir sind. Und damit tragen wir alle letztlich auch eine Verantwortung für das, was in unseren Familien, in unserem Umfeld passiert. Sich das einzugestehen ist nicht leicht. Es ist ungleich schwieriger, wenn einem jemand den Spiegel vorhält, der dafür nicht vorgesehen ist. Ich habe mit meinen Äußerungen einen wunden Punkt getroffen und mit meinen Versuchen, dem Menschen hinter der Fassade des Peinigers und Saubermannes nachzuspüren, Unverständnis geerntet. Ich habe mich nach meiner Befreiung sogar mit Wölfgang Priklopils Freund Holzapfel getroffen, um über den Täter sprechen zu können. Weil ich verstehen wollte, warum er zu dem geworden war, der mir das angetan hatte. Doch ich brach diese Versuche schnell ab. Man gestand mir diese Form der Aufarbeitung nicht zu und verbrämte sie mit dem Begriff Stockholm-Syndrom.
Auch die Behörden änderten ihr Verhalten mir gegenüber nach und nach. Ich bekam den Eindruck, dass sie es mir in gewisser Weise übelnahmen, dass ich mich selbst befreit hatte. Sie waren in diesem Fall nicht die Retter, sondern diejenigen, die all die Jahre
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