3096 Tage
schuldig.
»Herrgott noch mal! Ihr seid um Stunden zu spät, ich sitze hier und mache mir Sorgen. Wie kann er dich nur allein durch den Hof gehen lassen? Mitten in der Nacht? Es hätte dir etwas passieren können! Aber eines sage ich dir: Du siehst deinen Vater nicht mehr. Ich hab es so satt und ich lasse das nicht mehr länger zu!«
* * *
Zum Zeitpunkt meiner Geburt am 17. Februar 1988 war meine Mutter 38 Jahre alt und hatte bereits zwei erwachsene Töchter. Meine erste Halbschwester war auf die Welt gekommen, als sie gerade 18 Jahre gewesen alt war, die zweite wurde ein gutes Jahr später geboren. Das war Ende der 1960er Jahre. Meine Mutter war mit den beiden kleinen Kindern überfordert und auf sich allein gestellt - sie hatte sich bald nach der Geburt meiner zweiten Halbschwester vom Vater der beiden Mädchen scheiden lassen. Es war nicht leicht für sie gewesen, den Lebensunterhalt für ihre kleine Familie zu bestreiten. Sie musste um vieles kämpfen, handelte dabei pragmatisch und mit einer gewissen Härte gegen sich selbst und tat alles, um ihre Kinder durchzubringen. Für Sentimentalität und Zaghaftigkeit, für Muße und Leichtigkeit war kein Raum in ihrem Leben. Nun, mit 38, als die beiden Mädchen erwachsen waren, war sie zum ersten Mal seit langem von den Pflichten und Sorgen der Kindererziehung befreit. Genau zu diesem Zeitpunkt kündigte ich mich an. Meine Mutter hatte nicht mehr mit einer Schwangerschaft gerechnet.
Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, war eigendich gerade dabei, sich wieder aufzulösen. Ich wirbelte alles durcheinander: Die Kindersachen mussten wieder hervorgekramt und die Tagesabläufe auf einen Säugling abgestimmt werden. Auch wenn ich freudig aufgenommen und von allen wie eine kleine Prinzessin verwöhnt wurde, fühlte ich mich in meiner Kindheit manchmal wie das fünfte Rad am Wagen. Ich musste mir meinen Platz in einer Welt, in der die Rollen bereits verteilt waren, erst erkämpfen.
Meine Eltern waren zum Zeitpunkt meiner Geburt seit drei Jahren ein Paar. Kennengelernt hatten sie sich über eine Kundin meiner Mutter. Als gelernte Schneiderin verdiente meine Mutter den Lebensunterhalt für sich und ihre beiden Töchter, indem sie für die Damen der Umgebung Kleider nähte und änderte. Eine ihrer Kundinnen war eine Frau aus Süßenbrunn bei Wien, die gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn eine Bäckerei und ein kleines Lebensmittelgeschäft betrieb. Ludwig Koch junior hatte sie manchmal zu den Anproben begleitet und war immer etwas länger als notwendig geblieben, um mit meiner Mutter zu plaudern. Sie hatte sich schnell in den jungen, stattlichen Bäcker verhebt, der sie mit seinen Geschichten zum Lachen brachte. Nach einiger Zeit hielt er sich immer häufiger bei ihr und den beiden Mädchen im großen Gemeindebau am nördlichen Stadtrand von Wien auf. Die Stadt franst hier in das flache Land des Marchfeldes aus und kann sich nicht recht entscheiden, was sie sein will. Es ist eine zusammengewürfelte Gegend ohne Zentrum und ohne Gesicht, in der alles möglich scheint und der Zufall regiert. Gewerbegebiete und Fabriken stehen inmitten brachliegender Felder, auf denen die Hunde der Siedlungen in Rudeln durch das ungemähte Gras toben. Dazwischen kämpfen die Kerne ehemaliger Dörfer um ihre Identität, die genau wie die Farbe der kleinen Biedermeier-Häuschen langsam abblättert. Relikte vergangener Zeiten, abgelöst von zahllosen Gemeindebauten, Utopien des sozialen Wohnungsbaus, mit großer Geste hingeklotzt auf die grüne Wiese und sich dort selbst überlassen. In einer der größten dieser Siedlungen bin ich aufgewachsen.
Der Gemeindebau am Rennbahnweg war in den 1970er Jahren am Reißbrett entworfen und hochgezogen worden, eine Stein gewordene Vision der Stadtplaner, die ein neues Umfeld für neue Menschen schaffen wollten: glückliche und arbeitsame Familien der Zukunft, untergebracht in modernen Satellitenstädten mit klaren Linien, Einkaufszentren und guter Verkehrsanbindung nach Wien.
Auf den ersten Blick schien das Experiment gelungen. Der Komplex besteht aus 2400 Wohnungen, über 7000 Menschen wohnen dort. Die Höfe zwischen den Wohntürmen sind großzügig bemessen und von hohen Bäumen beschattet, Spielplätze wechseln sich ab mit Arenen aus Beton und großen Rasenflächen. Man kann sich direkt vorstellen, wie die Stadtplaner Miniaturausgaben spielender Kinder und Mütter mit Kinderwagen auf ihr Modell setzten und überzeugt davon waren, dass
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