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versagt hatten. Der schwelende Frust, den das bei den Verantwortlichen wohl ausgelöst hat, schwappte im Jahr 2008 an die Oberfläche. Herwig Haidinger, der ehemalige Direktor des Bundeskriminalamtes, deckte auf, dass Politik und Polizei ihre Ermittlungspannen in meinem Fall nach meiner Selbstbefreiung aktiv vertuscht haben. Er veröffentlichte den Hinweis jenes Hundeführers, der schon sechs Wochen nach meiner Entführung auf Wölfgang Priklopil als Täter gedeutet hatte - und dem die Polizei nicht nachgegangen war, obwohl sie sonst auf der Suche nach mir jeden Strohhalm ergriffen hatte.
Die Sonderkommissionen, die später meinen Fall übernahmen, wussten von diesem entscheidenden Hinweis nichts. Die Akte war »verschlampt« worden. Erst Herwig Haidinger war auf sie gestoßen, als er nach meiner Selbstbefreiung sämtliche Akten durchsah. Er machte die Innenministerin umgehend auf die Panne aufmerksam. Doch diese wollte so kurz vor den Wahlen im Herbst 2006 keinen Polizeiskandal und erteilte ihm die Weisung, die Nachforschungen ruhen zu lassen. Erst 2008, nach seiner Abberufung, deckte Haidinger diese Intervention auf und veröffentlichte über den Parlamentarier Peter Pilz folgende E-Mail, die er am 26. September 2006, einen Monat nach meiner Flucht, verfasst hatte:
»Sehr geehrter Herr Brigadier! Inhalt der ersten Weisung an mich war, dass keine Erhebungen zum zweiten Hinweis (Stichwort: Hundeführer aus Wien) gemacht werden dürfen. Dem Willen der Ressortleitung folgend habe ich mich - wenn auch unter Protest - an diese Weisung gehalten. Inhalt dieser Weisung war auch eine zweite Komponente: nämlich bis zu den Nationalratswahlen damit zuzuwarten. Dieser Termin ist mit kommendem Sonntag erreicht.« Doch auch nach den Wahlen wagte niemand, an der Sache zu rühren, sämtliche Informationen wurden weiter gedeckelt.
Als Haidinger damit 2008 an die Öffentlichkeit ging, lösten seine Aussagen fast eine Staatskrise aus. Eine neue Ermittlungskommission wurde ins Leben gerufen. Doch seltsamerweise richtete sie ihre Bemühungen nicht darauf, die Schlampereien zu untersuchen, sondern stellte meine Aussagen in Frage. Man fahndete nun erneut nach Mittätern und warf mir vor, sie zu decken - mir, die ich immer nur einem Menschen ausgeliefert war und gar nichts wissen konnte von dem, was rundherum noch geschehen war. Noch während der Arbeit an diesem Buch bin ich stundenlang vernommen worden. Man behandelte mich nun nicht länger wie ein Opfer - sondern unterstellte mir, dass ich entscheidende Details verheimlichte, und spekulierte öffentlich darüber, dass ich von Mittätern erpresst wurde. Es scheint für die Behörden einfacher zu sein, an die große Verschwörung hinter so einem Verbrechen zu glauben, als zuzugeben, dass sie die ganze Zeit einen harmlos wirkenden Einzeltäter übersehen hatten. Die neuen Ermittlungen wurden ohne Ergebnis eingestellt. Im Jahr 2010 wurde der Fall geschlossen. Die Erkenntnis der Behörden: Es gab keine Mittäter. Wolfgang Priklopil hatte allein gehandelt. Ich war erleichtert über diesen Abschluss.
Jetzt, vier Jahre nach meiner Selbstbefreiung, kann ich aufatmen und mich dem schwersten Kapitel der Aufarbeitung widmen: selbst mit dem Vergangenen abzuschließen und nach vorne zu sehen. Ich sehe nun wieder, dass nur wenige Menschen, meist anonym, aggressiv auf mich reagieren. Die Mehrheit der Menschen, die ich treffe, unterstützt mich auf meinem Weg. Langsam und vorsichtig setze ich einen Schritt nach dem nächsten und lerne, wieder zu vertrauen.
Ich habe in diesen vier Jahren meine Familie neu kennengelernt und wieder zu einem liebevollen Verhältnis mit meiner Mutter gefunden. Ich habe meinen Hauptschulabschluss nachgeholt und lerne nun Sprachen. Die Gefangenschaft wird mich mein Leben lang beschäftigen, aber ich habe langsam das Gefühl, dass ich davon nicht mehr bestimmt werde. Sie ist ein Teil von mir, aber sie ist nicht alles. Es gibt noch so viele andere Facetten des Lebens, die ich erleben möchte.
Mit diesem Buch habe ich versucht, das bisher längste und dunkelste Kapitel meines Lebens abzuschließen. Ich bin zutiefst erleichtert, dass ich für all das Unaussprechliche, Widersprüchliche, Worte gefunden habe. Sie gedruckt vor mir zu sehen hilft mir dabei, mit Zuversicht nach vorne zu blicken. Denn das, was ich erlebt habe, gibt mir auch Stärke: Ich habe die Gefangenschaft im Verlies überlebt, mich selbst befreit und bin aufrecht geblieben. Ich weiß, dass ich auch das Leben
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