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eher schwer, Gefühle bei sich und anderen zuzulassen. Sie war nicht die Frau, die ein Kind ständig in den Arm nahm und knuddelte. Sowohl Tränen als auch überschwängliche Liebesbekundungen waren ihr immer etwas unangenehm. Meine Mutter, die durch die frühe Schwangerschaft so schnell erwachsen werden musste, hatte sich im Laufe der Zeit ein dickes Fell zugelegt. Sie gestand sich selbst keine »Schwäche« zu und ertrug sie nicht bei anderen. Ich habe als Kind oft erlebt, wie sie Erkältungen mit reiner Willenskraft niederrang, und sah fasziniert zu, wie sie dampfend heißes Geschirr aus dem Geschirrspüler nahm, ohne zurückzuzucken. »Ein Indianer kennt keinen Schmerz« war ihr Credo - eine gewisse Härte schadet nicht, sie hilft einem sogar, in der Welt zu bestehen.
Mein Vater war in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil. Er empfing mich mit offenen Armen, wenn ich mich an ihn kuscheln wollte, und spielte voller Spaß mit mir - wenn er denn wach war. In dieser Zeit nämlich, als er noch bei uns lebte, habe ich ihn meist schlafend erlebt. Mein Vater liebte es, nachts auszugehen, und trank gerne und reichlich mit seinen Freunden. Dementsprechend wenig geeignet war er für seinen Beruf. Er hatte die Bäckerei von seinem Vater übernommen, ohne sich jemals für dieses Handwerk zu begeistern. Aber die größte Qual bereitete ihm das frühe Aufstehen. Bis Mitternacht zog er durch die Bars, und wenn der Wecker um zwei Uhr früh läutete, war er kaum wachzubekommen. Nach dem Ausliefern der Brötchen lag er für Stunden schnarchend auf der Couch. Sein riesiger, kugelförmiger Bauch hob und senkte sich gewaltig vor meinen faszinierten Kinderaugen. Ich spielte mit dem schlafenden, großen Mann, legte ihm Teddybären an die Wange, dekorierte ihn mit Bändern und Schleifen, setzte ihm Häubchen auf und lackierte ihm die Nägel. Wenn er am Nachmittag wieder aufwachte, wirbelte er mich durch die Luft und zauberte kleine Überraschungen aus den Ärmeln. Dann zog er wieder los in die Bars und Cafes der Stadt.
* * *
Zum wichtigsten Bezugspunkt wurde für mich in dieser Zeit meine Großmutter. Bei ihr, die mit meinem Vater gemeinsam die Bäckerei führte, fühlte ich mich rundum zu Hause und aufgehoben. Sie wohnte nur wenige Autominuten von uns entfernt und doch in einer anderen Welt. Süßenbrunn ist eines der alten Dörfer am nördlichen Stadtrand von Wien, dessen ländlichen Charakter die immer näher rückende Stadt nicht brechen konnte. Die ruhigen Seitengassen säumten alte Einfamilienhäuser mit Gärten, in denen noch Gemüse angebaut wurde. Das Haus meiner Großmutter, in dem sich eine kleine Greißlerei* [Tante-Emma-Laden] sowie die Backstube befanden, sah noch genauso aus wie zu Zeiten der Monarchie.
Meine Großmutter stammte aus der Wachau, einem pittoresken Teil des Donautals, in dem auf den sonnigen Hangterrassen Wein angebaut wird. Ihre Eltern waren Weinbauern, und wie damals üblich musste meine Großmutter schon als sehr junges Mädchen auf dem Hof mit anpacken. Sie sprach voller Wehmut und Nostalgie von ihrer Jugend in dieser Gegend, die in den Hans-Moser-Filmen der 1950er Jahre zu einem lieblichen Idyll verklärt wurde. Und das, obwohl ihr Leben in dieser malerischen Landschaft sich hauptsächlich um Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit gedreht hatte. Als sie auf dem Fährschiff, das die Menschen von der einen auf die andere Seite der Donau bringt, einen Bäcker aus Spitz kennenlernte, ergriff sie die Gelegenheit zur Flucht aus diesem vorgezeichneten Leben und heiratete. Ludwig Koch senior war 24 Jahre älter als sie, und es ist schwer vorstellbar, dass es nur Liebe gewesen ist, die sie zur Heirat bewogen hatte. Aber sie sprach ihr ganzes Leben lang mit großer Zuneigung von ihrem Mann, den ich nie kennengelernt habe. Er ist kurz nach meiner Geburt gestorben.
Meine Großmutter blieb auch nach all den Jahren in der Stadt immer eine ländliche, etwas schrullige Frau. Sie trug Wollröcke und darüber geblümte Schürzen, ihr Haar hatte sie zu Locken eingedreht und sie verströmte einen Geruch nach Küche und Franzbranntwein, der mich umhüllte, wenn ich mein Gesicht in ihre Röcke drückte. Ich mochte sogar den leichten Alkoholdunst, der sie immer umgab. Als Tochter von Weinbauern trank sie zu jeder Mahlzeit ein großes Glas Wein, als wäre es Wasser, ohne jemals auch nur ein leises Anzeichen von Trunkenheit zu zeigen. Sie blieb ihren Gewohnheiten treu, kochte auf einem alten Holzofen und reinigte
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