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in der Süßenbrunner Pröbstelgasse, nur ein paar hundert Meter vom Haus meiner Großmutter entfernt an der Hauptstraße des Ortes. In einem ebenerdigen altrosa Eckhaus mit einer altmodischen Tür und einer Ladentheke aus den 1960er Jahren verkauften sie Gebäck, Feinkost, Zeitungen und spezielle Zeitschriften für Lastwagenfahrer, die hier, an der Ausfallstraße von Wien, einen letzten Stopp einlegten. In den Regalen stapelten sich die kleinen Dinge des täglichen Bedarfs, die man auch dann noch beim Greißler holt, wenn man sonst schon lange im Supermarkt einkauft: kleine Kartons mit Waschmitteln, Nudeln, Päckchensuppen und vor allem Süßigkeiten. Im kleinen Hinterhof stand ein altes, rosa gestrichenes Kühlhaus.
Diese beiden Geschäfte wurden später - neben dem Haus meiner Großmutter - zu zentralen Eckpunkten meiner Kindheit. Im Laden in der Marco-Polo-Siedlung verbrachte ich unzählige Nachmittage nach dem Kindergarten oder der Schule, während meine Mutter sich um die Buchhaltung kümmerte oder Kunden bediente. Ich spielte mit anderen Kindern Verstecken oder kullerte den kleinen Rodelhügel hinunter, den die Gemeinde aufgeschüttet hatte. Die Siedlung war kleiner und ruhiger als unsere, ich durfte mich frei bewegen und fand leicht Anschluss. Aus dem Geschäft konnte ich die Gäste im Stüberl beobachten: Hausfrauen, Männer, die von der Arbeit kamen, und andere, die schon am späten Vormittag ihr erstes Bier tranken und sich dazu einen Toast servieren ließen. Alle diese Geschäfte gehörten zu der Sorte, die langsam aus den Städten verschwinden und die dank langer Öffnungszeiten, Alkoholausschank und der persönlichen Ansprache eine wichtige Nische fur viele Menschen sind.
Mein Vater war für die Bäckerei und die Auslieferung der Backwaren zuständig, um alles andere kümmerte sich meine Mutter. Als ich etwa fünf Jahre alt war, begann er, mich auf seine Touren mitzunehmen. Wir fuhren in unserem Kastenwagen durch die weitläufigen Vorstädte und Dörfer, hielten in Gasthäusern, Bars und Cafes, an Hotdog-Ständen und in kleinen Geschäften. Ich habe deshalb die Gegend nördlich der Donau wohl besser kennengelernt als irgendein anderes Kind meines Alters - und mehr Zeit in Bars und Cafes verbracht, als vielleicht angemessen war. Ich genoss es ungemein, so viel Zeit mit meinem Vater zusammen zu verbringen, und fühlte mich sehr erwachsen und ernst genommen. Doch die Touren durch die Lokale hatten auch ihre unangenehmen Seiten.
»So ein liebes Mädchen!« Diesen Satz habe ich wohl tausend Mal gehört. Er ist mir nicht in guter Erinnerung, obwohl ich gelobt wurde und im Mittelpunkt stand. Die Menschen, die mich in die Wange kniffen und mir Schokolade kauften, waren mir fremd. Außerdem hasste ich es, wenn ich in ein Rampenlicht gedrängt wurde, das ich mir nicht selbst gesucht hatte und das in mir nur ein tiefes Gefühl der Peinlichkeit hinterließ.
In diesem Fall war es mein Vater, der sich vor seinen Kunden mit mir schmückte. Er war ein jovialer Mann, der den großen Auftritt liebte, seine kleine Tochter in ihrem frisch gebügelten Kleidchen war ein perfektes Accessoire. Er hatte überall Freunde - so viele, dass mir selbst als Kind auffiel, dass ihm nicht all diese Menschen wirklich nahestehen konnten. Die meisten von ihnen ließen sich von ihm auf ein Getränk einladen oder liehen sich Geld. In seiner Sucht nach Anerkennung zahlte er gerne.
In diesen verrauchten Vorstadtkneipen saß ich auf zu hohen Stühlen und hörte Erwachsenen zu, die sich nur im ersten Moment für mich interessierten. Zu einem guten Teil waren es Arbeitslose und verkrachte Existenzen, die ihre Tage mit Bier, Wein und Kartenspielen verbrachten. Viele von ihnen hatten einmal einen Beruf, waren Lehrer oder Beamte gewesen und irgendwann aus dem Leben gefallen. Heute nennt man das Burnout. Damals war es die Normalität in der Vorstadt.
Nur selten fragte jemand, was ich in diesen Lokalen verloren hätte. Die meisten nahmen es als gegeben hin und waren auf eine überdrehte Art freundlich zu mir. »Mein großes Mädchen«, sagte mein Vater dann anerkennend und tätschelte mir mit der Hand die Wange. Wenn mir jemand Süßigkeiten oder eine Limonade spendierte, wurde eine Gegenleistung erwartet: »Gib dem Onkel ein Küsschen. Gib der Tante ein Küsschen.« Ich sperrte mich gegen diesen engen Kontakt mit den Fremden, denen ich es übelnahm, dass sie die Aufmerksamkeit meines Vaters stahlen, die doch mir zustand. Diese Touren waren ein
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