3096 Tage
dass ich begann, den Kindergarten zu hassen. Gleich am ersten Tag hatte ich ein Erlebnis, das den Grundstein dafür legte. Ich war mit den anderen Kindern draußen im Garten und entdeckte eine Tulpe, die mich sehr faszinierte. Ich beugte mich über sie und zog sie mit der Hand vorsichtig zu mir heran, um daran zu riechen. Die Kindergärtnerin muss geglaubt haben, dass ich die Blume pflücken wollte. Mit einer scharfen Bewegung schlug sie mir auf den Handrücken. Ich rief empört: »Das sage ich meiner Mutter!« Doch am Abend musste ich feststellen, dass meine Mutter nicht mehr hinter mir stand, kaum dass sie die Zuständigkeit an jemand anderen delegiert hatte. Als ich ihr von dem Vorfall erzählte - überzeugt, dass sie mich solidarisch verteidigen und die Kindergärtnerin am nächsten Tag zurechtweisen würde -, meinte sie nur, es sei nun einmal so im Kindergarten, dass man sich an die Regeln halten müsse. Und überhaupt: »Da mische ich mich gar nicht ein, denn ich war ja nicht dabei.« Dieser Satz wurde zu ihrer Standardantwort, wenn ich Probleme mit den Kindergärtnerinnen hatte. Und wenn ich ihr von den Schikanen der anderen Kinder erzählte, sagte sie lapidar: »Dann musst du eben zurückschlagen.« Ich musste lernen, Schwierigkeiten allein zu meistern. Die Zeit im Kindergarten wurde für mich zu einer harten Durststrecke. Ich hasste die strengen Regeln. Es widerstrebte mir, nach dem Mittagessen mit den anderen Kindern im Schlafsaal ruhen zu müssen, obwohl ich nicht müde war. Die Kindergärtnerinnen verrichteten ihre Arbeit routiniert, aber ohne sich besonders für uns zu interessieren. Während sie uns mit einem Auge beaufsichtigten, lasen sie Romane und Zeitschriften, tratschten und lackierten sich die Fingernägel.
Zu den anderen Kindern fand ich nur langsam Zugang, ich fühlte mich inmitten Gleichaltriger einsamer als zuvor.
* * *
»Risikofaktoren vor allem bei der sekundären Enuresis beziehen sich auf Verluste im weitesten Sinn, wie zum Beispiel Trennung, Scheidung, Todesfälle, Geburt eines Geschwisters, extreme Armut, Delinquenz der Eltern, Deprivation, Vernachlässigung, mangelhafte Unterstützung bei Entwicklungsschritten.« So beschreibt das Lexikon die Ursachen für ein Problem, mit dem ich in dieser Zeit zu kämpfen hatte. Ich wurde vom frühreifen Kind, das schon sehr bald die Windeln abgelegt hatte, zur Bettnässerin. Das Bettnässen wurde zu einem Stigma, das mein Leben beeinträchtigte. Die nächtlichen nassen Flecken im Bett wurden zu einem Quell unaufhörlicher Schelte und Spotts.
Als ich mich zum wiederholten Mal einnässte, reagierte meine Mutter, wie es damals üblich war. Sie hielt es für ein mutwilliges Verhalten, das man einem Kind mit Zwang und Strafen aberziehen kann. Sie gab mir einen Klaps auf den Po und fragte wütend: »Warum tust du mir das an?« Sie tobte, reagierte verzweifelt, war ratlos. Und ich machte weiter nachts ins Bett. Meine Mutter besorgte Kautschuk-Unterlagen und legte damit mein Bett aus. Es war eine demütigende Erfahrung. Ich wusste aus den Unterhaltungen der Freundinnen meiner Großmutter, dass Gummimatten und Spezialbettwäsche Utensilien für alte und kranke Menschen waren. Ich hingegen wollte als großes Mädchen behandelt werden.
Doch es hörte nicht auf. Meine Mutter weckte mich nachts, um mich aufs Klo zu setzen. Machte ich das Bett trotzdem nass, wechselte sie fluchend meine Leintücher und den Pyjama. Manchmal wachte ich in der Früh trocken und stolz auf, aber sie dämpfte meine Freude sofort: »Du kannst dich nur nicht erinnern, dass ich dich in der Nacht schon wieder umziehen musste«, blaffte sie. »Sieh nur, welchen Pyjama du anhast.« Es waren Vorwürfe, denen ich nichts entgegensetzen konnte. Sie strafte mich mit Verachtung und Spott. Als ich mir Barbie-Bettwäsche wünschte, lachte sie mich aus - ich würde sie ja ohnehin nur nass machen. Ich versank vor Scham fast im Boden.
Schließlich begann sie zu kontrollieren, wie viel Flüssigkeit ich zu mir nahm. Ich war immer schon ein durstiges Kind gewesen und trank oft und viel. Doch nun wurde mein Trinkverhalten genau reglementiert. Am Tag bekam ich nur wenig, am Abend gar nichts mehr. Je verbotener Wasser oder Säfte waren, desto größer wurde mein Durst, bis ich an nichts anderes mehr denken konnte. Jeder Schluck und jeder Toilettengang wurden beobachtet und kommentiert, aber nur, wenn wir allein waren. Was sollen denn die Leute denken.
Im Kindergarten nahm das Bettnässen
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