3096 Tage
schämte mich dafür, dass ich gefallen war, und ich schämte mich für die Mühe, die ich allen bereitete. Mach keine Umstände. Mach nicht so einen Aufstand. Sei nicht hysterisch. Große Mädchen weinen nicht. Diese Leitsätze meiner Kindheit, tausend Mal gehört, hatten mich anderthalb Tage die Schmerzen in meinem gebrochenen Arm ertragen lassen. Nun, während der Fahrt auf der Autobahn, zwischen den Tiraden des Freundes meiner Mutter, wiederholte sie eine innere Stimme in meinem Kopf.
Meine Lehrerin bekam damals ein Disziplinarverfahren, weil sie mich nicht sofort ins Krankenhaus gebracht hatte. Es stimmte natürlich, dass sie ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt hatte. Doch den größten Teil der Vernachlässigung erledigte ich selbst. Das Vertrauen in meine eigene Wahrnehmung war damals schon so gering, dass ich nicht einmal mit einem gebrochenen Arm das Gefühl hatte, um Hilfe bitten zu dürfen.
* * *
Meinen Vater sah ich inzwischen nur noch an den Wochenenden oder wenn er mich hin und wieder auf eine seiner Touren mitnahm. Auch er hatte sich nach der Trennung von meiner Mutter neu verliebt. Seine Freundin war nett, aber distanziert. Einmal sagte sie nachdenklich zu mir: »Ich weiß jetzt, warum du so schwierig bist. Deine Eltern haben dich nicht lieb.« Ich protestierte lautstark - aber der Satz verfing sich in meiner verletzten Kinderseele. Vielleicht hatte sie ja recht? Schließlich war sie eine Erwachsene, und die hatten ja immer recht.
Der Gedanke ließ mich tagelang nicht los.
Als ich neun Jahre alt war, begann ich, meinen Frust mit Essen zu kompensieren. Ich war schon früher kein dünnes Kind gewesen und in einer Familie aufgewachsen, in der Essen eine große Rolle spielte. Meine Mutter war der Typ Frau, die essen konnte, so viel sie wollte, ohne ein Gramm zuzunehmen. Es mag an einer Schilddrüsen-Überfunktion gelegen haben oder an ihrem aktiven Wesen: Sie aß Schmalzbrote und Torten, Kümmelbraten und Schinkensemmeln und nahm nicht zu und wurde nicht müde, das auch vor anderen zu betonen: »Ich kann ja essen, was ich will«, flötete sie, ein Brot mit fettem Aufstrich in der Hand. Ich bekam von ihr die Maßlosigkeit beim Essen mit - nicht aber die Fähigkeit, die Kalorien von allein wieder zu verbrennen.
Mein Vater hingegen war so dick, dass es mir als Kind schon peinlich war, mit ihm gesehen zu werden. Sein Bauch war riesig und prall gespannt wie der einer Frau im achten Monat. Wenn er auf dem Sofa lag, ragte er wie ein Gebirge in die Höhe, und als kleines Kind hatte ich oft dagegen geklopft und gefragt: »Wann kommt denn das Baby?« Mein Vater lachte dazu gutmütig. Auf seinem Teller türmten sich Fleischberge, dazu musste es mehrere große Knödel geben, die in einem wahren Soßensee schwammen. Er verschlang riesige Portionen und aß auch dann noch weiter, wenn er schon lange keinen Hunger mehr hatte.
Wenn wir am Wochenende unsere Familienausflüge unternahmen - erst gemeinsam mit meiner Mutter, später mit seiner neuen Freundin -, drehte sich alles ums Essen. Während andere Familien Bergtouren, Radausflüge oder Museumsbesichtigungen machten, steuerten wir kulinarische Ziele an. Wir fuhren in ein neues Heurigen-Lokal, machten Ausflüge in Landgasthöfe, zu einer Burg nicht wegen der historischen Führungen, sondern um am Ritteressen teilzunehmen: Stapel von Fleisch und Knödeln, die man sich mit der Hand in den Mund schob, Krüge voller Bier dazu - das war ein Ausflugsziel nach dem Geschmack meines Vaters.
Auch in den beiden Geschäften in Süßenbrunn und in der Marco-Polo-Siedlung, die meine Mutter nach der Trennung von meinem Vater übernommen hatte, war ich ständig von Nahrungsmitteln umgeben. Wenn mich meine Mutter nach dem Hort abholte und ins Geschäft mitnahm, bekämpfte ich meine Langeweile mit Leckereien: ein Eis, Gummibärchen, ein Stück Schokolade, eine Essiggurke. Meine Mutter gab meistens nach - sie war zu beschäftigt, um genau darauf zu achten, was ich alles in mich hineinstopfte.
Nun aber begann ich, mich systematisch zu überessen. Ich aß eine ganze Packung Bounty, trank dazu eine große Flasche Cola, hinterher gab es noch Schokolade, bis meine Bauchdecke bis zum Platzen gespannt war. Kaum war ich wieder in der Lage, etwas in den Mund zu stecken, aß ich weiter. Im letzten Jahr vor meiner Entführung nahm ich so sehr zu, dass ich von einem Pummelchen tatsächlich zu einem richtig dicken Kind wurde. Ich wurde noch unsportlicher, die anderen Kinder
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