31 - Und Friede auf Erden
Uncle handelte am schnellsten von uns allen. Er eilte nach der Tür, nahm die Schluchzende bei der Hand und brachte sie herein, wobei er ganz vergaß, die Tür hinter ihr zu schließen. Es war Mary Waller. Sie hatte Tsi gesucht, des Vaters wegen, und ihn nicht in seinem Zimmer gefunden. Da sie unser lautes Sprechen hörte, nahm sie an, daß er bei uns sei. Ihr mehrmaliges Klopfen war überhört worden, und so hatte sie geöffnet, um sich bemerklich zu machen. Von unserem Gespräch festgebannt, hatte sie sich still verhalten; wie lange, das war nicht zu erörtern.
„Weint nicht, weint nicht!“ bat der Governor. „Ich kann das nicht vertragen! Menschentränen tun weher, viel weher als alles andere!“
Da nahm sie sich zusammen, kämpfte ihre Tränen wacker nieder und antwortete:
„Beruhigt Euch, Mylord! Es war nicht Schmerz, was mich bewegte; ich weinte Freudentränen. Oder meint Ihr, es gebe keinen Schmerz, dem es nicht erlaubt wäre, sich auch einmal zu freuen? Auch in mir gibt es zwei Mächte, welche miteinander kämpfen, grad so wie bei ihm; nur sind sie anderer Art. Die eine ist eine Teufelin. Sie will mich zwingen, ihn zu verurteilen, ihn für schuldig zu halten. Die andere muß ein Engel sein. Sie versichert mir unablässig, daß er freizusprechen sei. Die Teufelin weiß, daß mich alles anwidert, was gegen die Nächstenliebe und Menschenachtung spricht, und so oft Vater derartiges getan hat, dringt sie in mich, ihn zu hassen oder gar ihn zu verachten. Das ist fürchterlich! Der Engel aber flüstert mir dann immer mahnend zu, daß mein Vater ganz unmöglich in dieser Weise sprechen und in dieser Weise handeln könne. Mein Herz gebietet mir, dieser letzteren Stimme zu glauben; aber mein angstvoll suchender Verstand fand bisher keine logische Handhabe, das zu tun, was er so unendlich gern täte, nämlich das Herz zu unterstützen. Es war ein stiller, tiefer Jammer, den ich in mir trug und der um so mehr an mir zehrte, als ich ihn niemals, niemals emporkommen lassen durfte. Da trieb mich jetzt die Angst vom Vater fort. Er war erwacht und doch nicht bei Sinnen. Er wollte auf vom Lager, fort, nur fort. Er behauptete, die Heiden warteten auf ihn; er müsse eilen, ihre Götzen zu vernichten. Ich rang mit ihm. Das Fieber gab ihm Kraft, als sei er ein Gesunder, und nur mit größter Anstrengung gelang es mir, sie zu besiegen. Für eine Wiederholung aber fühlte ich mich zu schwach. Darum ging ich, um nach Doktor Tsi zu suchen, und kam, da ich ihn nicht fand, an Eure Tür. Ich öffnete nach öfterem, vergeblichem Klopfen. Ihr saht mich nicht; was aber hörte ich! War es der Engel meines Vaters, oder war es der meinige, der in Gestalt des Heidenpriesters hier mir so ganz unerwartet alles, alles gab, was mein Verstand bisher vergeblich suchte; Rechtfertigung des Vaters! Freisprechung von seiner Schuld! Logisch klarer und deutlicher Hinweis auf den eigentlichen, wirklichen Täter! Ich fühlte mich erlöst, erlöst von aller meiner Qual. Sie stieg in mir empor, weil sie das nun doch endlich, endlich durfte. Sie floß aus mir heraus, zu Tränen sich gestaltend – – Freudentränen!“
Warum waren wir still, als sie jetzt schwieg, um sich die Augen zu trocknen? War es nur Rührung? Oder war es noch mehr als das? Selbst Tsi, der doch sonst so außerordentlich Umsichtige, fühlte sich derart angegriffen, daß er in diesem Augenblick nur an die Tochter, nicht aber an den Vater dachte, zu dem sie ihn hatte holen wollen, damit er eine Wiederholung des Paroxysmus verhindere!
Der Priester stand in ihrer Nähe, fast ganz an der Fenstertür. Sein langes, weißes Haar floß ihm wie verwandelter Mondesschimmer von Haupt und Schultern nieder; sein Gesicht aber lag im Dunkel. Und aus diesem Dunkel heraus erklang es jetzt, als ob er beten wolle:
„Ich hörte hier von Engeln sprechen. So ist also der Himmel eingekehrt in diesem Raum. Denn Boten kennt der Himmel nicht; er naht sich uns stets selbst! Wenn wir ihn bei uns fühlen, doch ohne ihn zu sehen, so reden wir von Engeln. Dem Auge sichtbar aber wird er uns, wenn gute Menschen seinen Willen tun und darum sich an uns als Engel erweisen. Mein Kind, mein liebes Kind, ich bin weder der Engel deines Vaters noch der deinige. Aber ich wünschte, daß mir und Euch und der ganzen Erde der Himmel sichtbar werde: Wir Menschen wollen ihm dienen! Ich fühle es in diesem Augenblick, daß Höheres herniedersteigt und Heiliges hier waltet. Es geht durch mich ein liebevoller Drang, die
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