31 - Und Friede auf Erden
fiel es keinem von uns beiden ein, zu denken, daß er vergessen worden sei, oder dieses Schweigen gar für eine negative Absage der Freundschaft zu halten. Die Treue ist etwas Geistiges, oder noch richtiger, etwas Seelisches, und wer sie nach der Zahl der Briefbogen mißt, der traut sich selber nicht. Wer meiner Freundschaft zumutet, ihm in ganz bestimmten Zeitintervallen eine ganz bestimmte Zahl von Zeilen zu schreiben, der zwingt das Heiligste ins Briefcouvert und kann nur wenig Freunde haben. Schreibselige Menschen begeben sich sehr leicht in die Gefahr, lästig zu werden, und nur der Backfischfreundschaft ist es erlaubt, von dem hohen Wert der Zeit noch nichts zu wissen.
Nun hatte ich meinen John Raffley vorhin sofort an der Stimme erkannt, und jetzt wußte ich auch, wer der andere war, nämlich sein Verwandter, welcher damals die Stelle des Governors von Ceylon bekleidet hatte. Wie kamen sie hierher? Die ‚Coen‘ war das einzige Schiff, welches heute Passagiere abgegeben hatte, und ich wußte ja, daß sie mit dieser nicht gekommen waren. Zwar fiel mir da die ‚Yin‘ ein, und wie ich Raffley kannte, so war gerade ihm der Besitz einer solchen Jacht wohl zuzutrauen; aber sie trug chinesisches Gewand, während er, wie ich mich sehr wohl erinnerte, nichts weniger als ein Bewunderer chinesischer Verhältnisse gewesen war.
Da hörte ich eilige Schritte draußen von der Treppe her kommen, und eine sehr prestierte Stimme rief:
„Wo denn, wo? Welche Nummer?“
„Zweiunddreißig!“
Das war Omar, der von weitem antwortete.
„Zweiunddreißig? Well! Also links, hier, gleich da! Wonderful!“
Noch zwei Schritt, einen Sprung auf die Holzlage meines Vorzimmers, und da stand er, vom schnellen Laufen rasch atmend, in Hemdärmeln, barhäuptig und wie früher auch schon immer, den goldenen Klemmer auf der Nase, den er so virtuos bis auf ihre Spitze herunter reiten zu lassen verstand.
„Charley!“ rief er aus.
So pflegte er meinen Vornamen auszusprechen. Er stand zunächst ganz still vor mir und betrachtete mich mit Augen, aus denen nichts als Liebe und nichts als Freude strahlte. Seine Lippen zitterten erregt. Dann folgte jenes mir bekannte Spiel der Gesichtsmuskeln, mit welchen er, ohne ihn zu berühren, den Klemmer zwang, langsam bis an das Ende der Nase vorzurutschen und dort so verwegen sitzen zu bleiben wie ein Clown, der auf der äußersten Croupe seines Pferdes hängt. Dann schüttelte er die an der Schnur hängenden Gläser vollends ab, breitete die Arme aus, zog mich an sich und hielt mich, ohne ein Wort zu sagen, fest umschlungen. Hierauf schob er mich von sich ab, betrachtete mich noch einmal von dem Kopf bis zu den Füßen herab genau und rief dabei aus:
„Ja, ja, er ist's; er ist's in Wirklichkeit! Ein Sihdi, der mit mir essen will! Ein Mensch, welcher Gedichte macht! Stimmt! Daß ich das nicht gleich gedacht und gewußt habe! Charley, wollen wir wetten?“
„Worüber?“
„Daß Ihr nicht ahnt, wen ich bei mir habe!“
„Ich wette nicht, niemals! Das wißt Ihr doch!“
„Also noch immer nicht? Miserabel! Ihr seid ein ganzer Kerl, ja, ein famoser Kerl, in allen Sätteln fest und praktisch auf dem Land und auf dem Wasser, aber das eine, das eine, was Euch fehlt, das will noch immer nicht werden: Ihr wettet nicht, und solange Ihr das nicht tut, ist es nicht möglich, Euch einen vollkommenen Gentleman zu nennen!“
Das war seine alte und einzige Klage über mich, die ich damals unzählige Male hatte hören müssen.
„Ist es ehrlich, zu wetten, wenn man weiß, daß man gewinnen muß?“ fragte ich.
„Nein! Aber ich wette ja mit Euch, daß Ihr nicht gewinnen werdet!“
„Ich gewinne! Euer Verwandter, der Governor, ist bei Euch!“
Da trat er zwei Schritte zurück, setzte den Klemmer wieder auf, sah mich erstaunt an und sagte:
„Unbegreiflich! Dieser deutsche ‚Sihdi, welcher Gedichte macht‘, konnte fünf und auch noch mehr Pfund von mir gewinnen und hat nicht mitgetan! Aber – was sehe ich!“ Er streckte beide Arme nach vorn und sah die Hemdsärmel ganz betroffen an. „Wie bin ich gekommen? Wie stehe ich da?! Schrecklicher Mensch, der ich bin! Aber es war so schwül, und nur der Governor da! Ist auch in Hemdsärmeln! Muß ihn warnen! Kommt herauf, Charley, aber schnell, schnell! Habe vor Freude ganz den Rock vergessen! Ich reiße aus! Pardon!“
Er war wirklich im Gesicht rot geworden, der liebe, gute Mensch! Nun lief er so schnell fort, wie er gekommen war. Der Sejjid hatte
Weitere Kostenlose Bücher