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316 - Die Pest in Venedig

316 - Die Pest in Venedig

Titel: 316 - Die Pest in Venedig
Autoren: Michelle Stern
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Kristallsplitter fest an die Stirn und versuchte Kontakt aufzunehmen.
    Ihm war, als würde er eine schwache Spur von fremden Gedanken wahrnehmen. Hatte es etwa ein Rochenmodell niederer Ordnung durch ein Zeitportal nach Venedig verschlagen? Unmöglich war es nicht.
    Grao’sil’aana gelangte an einen Kanal und überquerte eine Brücke. Mehrfach änderte er die Richtung, ins Innere der Stadt. Zweimal glaubte er den Schatten am Abendhimmel verloren zu haben, doch er entdeckte ihn wieder. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte keine klaren Umrisse ausmachen.
    Der Schemen senkte sich auf ein verfallenes Haus aus Stein. Er landete. Grao’sil’aana drang in das Gebäude vor, das wohl einmal wohlhabenden Leuten gehört hatte, nun aber heruntergekommen wirkte. Ratten drängten sich davor und wühlten in Abfällen.
    Die gespannte Erwartung ließ Grao’sil’aana zittern. Selten hatte er eine solche Erregung gespürt. Wenn es wirklich einen Todesrochen in dieser Zeit gab, der irgendwie in die Vergangenheit geraten war, ergaben sich ganz neue Möglichkeiten.
    Hör auf, so emotional zu reagieren wie die Primärrassenvertreter , wies er sich in Gedanken zurecht. Du lässt dich von Wunschdenken beeinflussen. Das ist kein Lesh’iye. Vielleicht ist es ein mutiertes Tier. Aber warum sollte es ganz ohne CF-Strahlung Mutationen geben?
    Immer drei bis fünf Stufen auf einmal nehmend, sprang Grao’sil’aana die schmale Treppe hinauf. Er ignorierte das Gezeter einer alten Vettel. Beim flüchtigen Blick in eine der Wohnungen roch er den Tod. Verwesung überlagerte den Geruch nach Moder und Schimmel. Dieses Haus musste von der Seuche befallen sein, von der Mefju’drex gesprochen hatte.
    Endlich erreichte er das oberste Geschoss. Das Dach war eingefallen. Keine fünf Meter vor sich sah er im Licht des aufgehenden Mondes einen sich bewegenden Schatten.
    Grao öffnete seine Stirnpartie und presste den Kristallsplitter hinein. Die imitierte Haut schloss sich wieder darüber. Er sammelte seine mental-ontologische Substanz, um Kontakt aufzunehmen. Seit er seine telepathischen Kräfte verloren hatte, war er auf Hilfsmittel wie den Kristall angewiesen. »Ich bin Grao’sil’aana. Wenn du ein Modell meiner Rasse bist, gib dich zu erkennen!«
    Der Schatten stürzte vom Dach. Diesmal erkannte Grao’sil’aana seine Form, die einer übergroßen Fledermaus mit Affenkörper glich. Er lief bis zur Bruchkante, sah gerade noch, wie das Wesen um eine Hausecke flog. Gleichzeitig spürte er einen schwachen Gedankenstrom, der ihm fremd vorkam.
    »Das heißt dann wohl nein«, beantwortete er sich die Frage selbst. »Ein Lesh’iye bist du nicht. Aber was bist du?«
    ***
    Xij atmete ganz flach. Der Geruch nach Verwesung reizte ihren Magen. Obwohl er nur schwach in der Luft lag, nahm sie ihn überdeutlich wahr. In der kleinen Kammer vor ihr stand eine breite Liege aus Holz, auf der eine weibliche Gestalt unter einem Tuch lag; die Konturen zeichneten sich deutlich darunter ab. Über dem verdeckten Körper stand eine filigrane Glasglocke mit so kunstvollen Farbeinschüben, als wäre sie auf Murano gefertigt worden. Die graziöse Machart der Glocke stand im krassen Widerspruch zu der Leiche darunter. Der Anblick war absurd und ließ Xij an ihrem Verstand zweifeln.
    Zögernd trat sie näher. Das kann keine Leiche sein. Ich muss mich irren. Vielleicht liegt da eine Puppe.
    Der Verwesungsgestank strafte ihre Gedanken Lügen. Vor ihr befand sich eine Tote, auch wenn es vollkommen irreal erschien, mitten im Haus eines so angesehenen Mannes wie da Bellini eine Leiche zu finden. Wer war die Frau? Warum lag sie unter Glas aufgebahrt, einem toten Schneewittchen gleich?
    Xijs Hände krampften sich in den Stoff des Kleides, das Angelo da Bellini ihr gegeben hatte. Vielleicht hatte dieses Kleid einst der Frau vor ihr gehört. Die Tote hatte etwa ihre Maße. Mit einem Würgen wandte Xij sich ab. Sie musste aus diesem Casa verschwinden, Wachen hin oder her. Da Bellini verbarg die Leiche nicht ohne Grund. Vermutlich war er wahnsinnig und hatte seine letzte Frau umgebracht. Oder er mordete Huren in den Gassen, wie Jack the Ripper es in London tun würde, im Jahr 1888.
    Xij sammelte sich, schaffte es aber nicht, sich umzudrehen und zu fliehen. Zu ihrem Ekel kam neugierige Faszination. Was hatte sich in diesem Haus abgespielt? In dieser Kammer? Sie löste ihren Blick von der Liege mit der Glaskuppel fort und betrachtete den Raum genauer. Wenige Truhen standen an den
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