32 - Der Blaurote Methusalem
Vertrauen ziehen.“
„In diesem Fall ist es mir nicht schwer, noch einen meiner Gefährten
zu holen. Diese werden mich jetzt vermissen. Wir wollen gehen.“
„Ist der Tong-tschi daheim?“
„Nein, er ist ausgegangen, wird aber noch vor Abend wiederkommen, da dann die Tore der Straßen geschlossen werden.“
„Danach braucht er sich nicht zu richten. Er kann auch des Nachts
gehen und kommen, wie und wenn es beliebt. Ihm werden alle Pei-lu
geöffnet.“
Pei-lu heißen die triumphbogenartigen Bauwerke, welche die Straßen
abschließen und zu diesem Zweck mit Pforten versehen sind. Außer diesem
Zweck haben sie noch einen andern. Sie dienen nämlich als Denkmäler der
Verdienste derjenigen Personen, zu deren Andenken sie errichtet worden
sind.
Wenn ein Beamter oder ein Bürger viel für das Land, die Provinz oder
die Stadt getan hat, so wird ihm ein solcher Pei-lu errichtet, welcher
seinen Namen trägt und in weithin sichtbaren Zeichen eine Aufzählung
der Tugenden des Betreffenden enthält.
Nicht nur Verstorbene erhalten solche Denkmäler, sondern es kommt
auch vor, daß Lebenden welche gesetzt werden. Diese müssen dann die
Kosten bezahlen, wodurch aber die Ehre, welche ihnen erwiesen wird,
keinerlei Schmälerung erleidet.
Die beiden Deutschen verabschiedeten sich von dem Chinesen. Er
begleitete sie unter unaufhörlichen Bücklingen bis vor seine Ladentür
und machte es ihnen da nochmals bemerklich, daß er ganz sicher auf ihre
Hilfe rechne, ohne welche er auf keine Rettung rechnen könne.
Zu Hause angekommen, begaben sie sich nach Methusalems Zimmer.
„Sollen die andern wirklich nichts davon erfahren?“ fragte Gottfried.
„Nein, jetzt noch nicht.“
„Aber ihre Hilfe würde uns unter Umständen dienlich sein.“
„Unter Umständen, ja. Aber wir wollen lieber warten, bis diese Umstände eintreten.“
„Wollen wir nicht wenigstens unsern Richard mitnehmen?“
„Auch ihn nicht. Zu ihm habe ich noch eher Vertrauen als zu den
andern. Er ist über seine Jahre hinaus vorsichtig und bedächtig. Das
haben wir auf der Dschunke erfahren, wo wir ohne sein schnelles,
besonnenes und tapferes Handeln ermordet worden wären. Aber er ist mir
von seiner Mutter anvertraut worden; er ist halb noch Knabe, und ich
bin verantwortlich für alles, was mit ihm geschieht. Ich mag ihn nicht
unnötigerweise an einer Gefahr teilnehmen lassen.“
„Halten Sie die Sache für gefährlich?“
„Nein, aber unter Umständen kann sie es doch werden. Gehe jetzt und
suche die anderen auf. Sie werden nach mir fragen. Dann sage ihnen, daß
ich ungestört sein wolle, weil ich die Absicht habe, meine Notizen
einzuschreiben. Später kommst du zurück. In einer Viertelstunde wird es
dunkel.“
Der Gottfried ging. Bald nachher kam ein Diener, um die von der
Decke herabhängende Laterne anzuzünden und sich zu erkundigen, ob der
‚ganz Vornehme und sehr Alte‘ irgendeinen Befehl auszusprechen habe.
„Nein, ich danke!“ antwortete der Student. „Aber sage mir, ob es erlaubt ist, in den Garten zu gehen?“
„Des Morgens nicht, weil zu dieser Zeit die ‚Blume des Hauses‘ draußen lustwandelt.“
„Aber jetzt?“
„Ja. Wünscht mein Gebieter hinauszugehen?“
„In kurzer Zeit. Ich bin ein Yuet-tse und wünsche, ungestört nachdenken zu können.“
„Ich werde den Schöpfer des Gedichtes bis an die Pforte führen und
dort auf seine Rückkehr warten. Vielleicht hat er mir während seines
Spazierganges einen Befehl zu erteilen.“
„Nein, denn mein eigener Diener wird mich begleiten und dir meinen
Wunsch mitteilen, wenn ich einen solchen haben sollte. Ich wünsche,
ganz ungestört zu sein.“
Der Mann verbeugte sich und ging. Kurze Zeit später kam Gottfried zurück.
„Wo befinden sich die anderen?“ fragte Methusalem.
„In Turnersticks Zimmer, wo sie Tee trinken, Pfeife rauchen und
Domino spielen. Habe nicht jewußt, daß diese Chinesigen auch dat Domino
kennen.“
„Sie spielen es sogar sehr gern, doch sind die Steine und Ziffern anders arrangiert als bei uns. Horch!“
Von der Straße her ertönte der Schall der Gongs, welche von den
Wächtern geschlagen wurden, und dazwischen hörte man den Ruf:
„Siüt-schi, siüt-schi!“ Es war nach abendländischer Rechnung abends
sieben Uhr, nach chinesischer aber begann die elfte Stunde.
„Jetzt wird es Zeit“, sagte Degenfeld. „Hast du dein Messer?“
„Ja. Wer soll meuchlings erstochen werden?“
„Niemand, doch ist es möglich, daß wir es brauchen. Auch
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