32 - Der Blaurote Methusalem
Berge des Tian-wang-ling empor und im Südwesten die Höhen des Sai-chiu. Im Norden lag eine weite, wohlbewässerte und dörferreiche Ebene, welche nahe der Stadt in jene Sandhügel überging, in denen Kanton schon seit Jahrtausenden seine Toten begräbt.
Von dieser Pagode aus wurden die Reisenden nach dem Sing-pu, dem Kriminalgebäude, getragen. Sie stiegen vor einer offenen Pforte aus, an welcher spießtragende Soldaten Wache hielten, schritten durch einen engen Hof und gelangten dann in eine weite Halle, deren Dach von Säulen getragen wurde.
Es waren viele Menschen da, welche die fremden Ankömmlinge mit erstaunten Blicken betrachteten. Diese aber kehrten sich nicht an die Aufmerksamkeit, welche sie erregten, und drängten sich so weit vor, als es möglich war.
Da saß an einem Tisch ein alter Mandarin, welcher eine riesige Brille auf dem Näschen trug; sein Zopf hing hinter dem Stuhl bis zur Erde herab. Von Akten und Schreibrequisiten war nichts zu sehen. Der Beamte schien von solchen Überflüssigkeiten nicht viel zu halten, sondern die anhängigen Fälle gleich aus dem Stegreif zu behandeln.
Sechs Personen standen vor seinem Tisch, zwei als Kläger und vier als Beklagte. Das außerordentlich kurze Verhör ergab, daß die ersteren Kompagnons eines Schuhwarengeschäftes waren und die letzteren als säumige Kunden geladen hatten. Die Schuldner gaben zu, geborgt zu haben, behaupteten aber, arm zu sein und nicht bezahlen zu können. Nach kurzem Nachdenken erklärte der Mandarin alle für schuldig, sogar die Kläger, da diese wegen leichtsinnigen Kreditgebens und zweckloser Belästigung der hohen Behörde zu bestrafen seien. Er warf einigen hinter ihm stehenden Vollzugsorganen, welche mit Bambusstöcken versehen waren, einen halblauten Befehl zu, worauf sie sich der sechs Personen bemächtigten, um ihnen gleich am Platz die für sie bestimmte Züchtigung zu erteilen.
Die Helden des Prozesses mußten sich nebeneinander, mit dem Rücken nach oben, lang auf die Erde legen. Zur Verabreichung der Strafe waren drei Polizisten nötig. Der erste hielt den Kopf des Delinquenten nieder, der zweite kniete ihm auf die Beine, und der dritte führte mit dem Bambus jene gefühlvolle Prozedur aus, welche auch manchem nichtchinesischen und sonst braven Mann aus seinen Jugendjahren her noch in gutem Gedächtnis steht. Jeder erhielt fünfzehn Hiebe, und zwar aus voller Kraft. Keiner schrie; vielleicht waren dergleichen Vorkommnisse bei ihnen zu herkömmlichen geworden. Dann standen sie auf, verbeugten sich vor dem Mandarin und trollten von dannen. Als die beiden Kläger an den Deutschen vorüberkamen, sagte eben der eine zum andern: „Put-ko tschu-san tai, put yit-tschi – Nur die ersten drei tun weh, die andern nicht.“
Jedenfalls besaß der Mann in diesem Fach eine Erfahrung, welcher mancher europäische Kenner desselben Genres vielleicht widersprechen würde.
Sie waren noch nicht verschwunden, so begann bereits die Verhandlung einer neuen Sache. Es traten zwei Männer auf, von denen der eine eine dunkel gefärbte Beule seines Gesichtes unter der Behauptung vorzeigte, daß sie ihm von dem andern geschlagen worden sei. Der Angeklagte stellte das ganz entschieden in Abrede. Es zeigte sich sofort, daß es für beide besser gewesen wäre, wenn sie sich den vorher verhandelten Fall zur Warnung hätten dienen lassen. Sie wurden von ganz demselben Schicksal, natürlich in Gestalt der Polizisten, ergriffen und erhielten vierzig Hiebe zu ganz gleichen Hälften, worauf sie ihre Verbeugungen machten und mit sehr befriedigten Mienen, aber die Hände zärtlich auf die in Mitleidenschaft gezogene Gegend gelegt, hinter dem Kreis der Zuschauer verschwanden.
„Wollen jehen!“ meinte Gottfried. „Mich wird angst und bange, denn dieser Mandarin bestreicht alles aus einem Topf. Dat is mich zu jefährlich. Ich will mir nicht der Jefahr aussetzen, auch mir als Partei betrachten und behandeln zu lassen. Tsching tsching!“
Sie entfernten sich, um sich nach dem Hing-miao, dem Tempel des ‚Schreckens und der Bestrafung‘, tragen zu lassen.
Dieser ist der besuchteste Tempel der Stadt und sein Idol der Schutzgeist von Kanton. Man gelangt durch ein verschnörkeltes Tor in einen Hof, in welchem Hunderte von Bettlern stehen, um die Besucher mit wildem Heulen anzufallen. Die ganze Schar stürzte sich förmlich auf die Sänften, so daß die Insassen kaum auszusteigen vermochten.
Da kam dem Methusalem der Gedanke, die Wirkung seines T'eu-kuan zu
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