32 - Der Blaurote Methusalem
erproben. Er zog das winzige Büchelchen aus der Tasche, öffnete es und hielt es, ohne ein Wort zu sagen, den ihm am nächsten stehenden zerlumpten Gestalten vor die schmutzigen Gesichter. Der Erfolg war ein augenblicklicher.
„T'eu-kuan-kiün – der Besitzer eines T'eu-kuan!“ rief ein starker Kerl, dem ein Arm fehlte.
„T'eu-kuan-kiün!“ schrien andre ihm nach.
Der Ruf pflanzte sich fort, und die Leute zogen sich ehrerbietig bis an die Mauern zurück. Auf das wüste Geschrei vorher war eine tiefe Stille eingetreten.
Degenfeld sah, welch erstaunliche Wirkung der Paß ausübte; aber er hatte nicht die Absicht gehabt, die Bittenden von sich zu weisen. Jedenfalls war es geraten, den Armen zu beweisen, daß auch der Besitzer eines Passes des Bettlerkönigs sich ihnen nicht entziehe. Er winkte einen Mann herbei und fragte ihn, ob es ein ‚Haupt‘ unter ihnen gebe, dem die andern zu gehorchen hätten. Die Frage wurde bejaht, und als der Methusalem den betreffenden zu sich wünschte, wurde eben jener Einarmige herbeigerufen. Er gab diesem einen Silberdollar, eine Münze, welche in Kanton gern gewechselt wird, und bat ihn, diese Gabe unter die Leute zu verteilen. Der Mann bedankte sich mit einer Ehrfurcht, als ob er einen König vor sich habe, entfernte sich, indem er als Zeichen seiner Hochachtung rückwärts ging.
Außer diesen Bettlern gab es noch andre Leute in dem Hof, Quacksalber, Taschenspieler, Zahnkünstler, Zauberer, bei denen man einen Blick in die Zukunft tun konnte, Kuchenbäcker, Garköche und andre Händler. Der Tempel ist sehr stark besucht und also ein Ort, an welchem diese Leute auf guten Absatz rechnen können.
Seinen Namen hat der Tempel von den zu sehenden bildlichen Darstellungen der Schrecken, welche den Sünder nach seinem Tod erwarten. Man sah da alle Strafen, welche sich die Phantasie des Menschen zu denken vermag.
Da wurde ein Sünder, welcher als Klöppel in einer Glocke hing, zu Tode geläutet; der Leib eines andern wurde wie ein Korkzieher aufgeschraubt; ein dritter lag zwischen zwei Brettern, von denen er zu Teig gepreßt wurde. Man sah Seelen, welche in Öl gesotten, durch Messer zerstückelt, durch angespannte Ochsen zerrissen, in Mörtel erstickt, auf Pfählen gespießt, auf Rosten gebraten, verkehrt aufgehängt und von Rädern zermalmt wurden. Der Anblick war so grauenhaft, daß der Methusalem dem begleitenden Priester sehr bald das Kom-tscha reichte und die Gefährten aufforderte, mit ihm diesen Ort des Schreckens zu verlassen.
„Aber wohin nun?“ fragte Turnerstick. „Ich denke, wir wollen nach dem ‚Haus der hundert Himmelsherren‘, in welchem gestern abend der Diebstahl ausgeführt worden ist?“
„Das wollen wir allerdings“, antwortete Degenfeld. „Ich werde die Träger instruieren.“
Begleitet von dem dankbaren Tsching tsching der Bettler durchschritten sie den Hof, um sich nun nach dem Pek-thian-tschu-fan bringen zu lassen.
Der Weg führt bis in den Stadtteil, in welchem der Tong-tschi wohnte, woraus zu ersehen war, daß die Diebe gestern gar nicht weit von dem Ort ihrer Tat bis nach dem Garten des Juweliers zu gehen gehabt hatten. Im andern Fall wäre ihnen die Ausführung des Raubes, wenn nicht unmöglich, so doch viel schwerer geworden.
Auch hier mußte man vor dem Tor aussteigen. Als sie die Sänften verlassen hatten, machte der Methusalem den Vorschlag, nur noch diesen Tempel zu besichtigen und dann das Mittagsmahl entweder in einem Speisehaus oder daheim bei dem Mandarinen einzunehmen, da es nun Zeit dazu geworden sei. Der Vormittag war längst vorüber.
Der Vorhof, durch welchen sie mußten, war leer von Menschen. Ein einziger Bonze stand da. Er begrüßte sie und fragte, ob sie auch gekommen seien, die Stätte zu sehen, an welcher gestern eine so grausige Tat begangen worden sei.
„Der Tempel ist heut nicht leer geworden“, fuhr er fort. „Nun aber sind alle Menschen gegangen, um die Götter zurückzubegleiten, welche unsre Priester feierlichst einholen. Das wird ein großer Triumphzug werden. Nur der große Tong-tschi ist da, dem wir das Ergreifen der Diebe verdanken. Er will sehen, welche Vorbereitung wir zum Empfang des Zuges getroffen haben.“
Der Tempel besteht aus zwei Teilen, der größere war nach rückwärts gelegen und enthielt die bedeutendere Anzahl der Götterbilder. Die Deutschen traten in den kleineren, nach vorn gelegenen ein. Da standen achtzehn Figuren; zwei Postamente, auf denen die Geraubten gethront hatten, waren
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