323 - Die Hölle auf Erden
muss ich Sie ersuchen zu gehen – sofort.« Sie wies zur Tür.
»Mutter!«, begehrte Mahó auf. »Schick sie nicht weg. Bitte. Ich...«
»Schon gut.«
Nicht ihre Mutter hatte diese Worte gesprochen, sondern ein Mann, ungefähr so groß wie Kaito und etwa doppelt so alt. Er kam in Begleitung seines Sohnes den Gang herab. Ernst musterte er erst Matt und Xij, dann seine Frau und seine Tochter. »Hören wir uns erst einmal an, was sie uns zu sagen haben.«
Die Frau schwieg und senkte ihr Haupt, auch wenn sie sichtlich anderer Meinung war.
»Mahó hat offenbar keine Angst vor ihnen«, fuhr er fort. Und noch viel wichtiger: Sie sieht diese Fremden! Ich erkenne ein Wunder, wenn ich es sehe. Du nicht?«
Sie nahmen in einem spartanisch eingerichteten Raum Platz, wo Mahós Vater seiner Frau auftrug, die Gäste mit Tee und leichten Speisen zu bewirten.
Erst da merkte Matt, wie ausgehungert er war.
»Leichte Speisen« war maßlos untertrieben. Die Gastgeber tischten eine Vielzahl von kalten Gerichten auf, die offenbar bereits zubereitet gewesen waren. Nur der Tee wurde frisch aufgebrüht. Und mit dem Tee wurden auch die Gespräche eingeleitet und begleitet, die sich zwischen den so unterschiedlichen Teilnehmern der Runde entsponnen.
Die gemeinsame Sprache half, eine zunehmend gelöstere Atmosphäre zu schaffen und gegenseitiges Verständnis. Selbst Miyu, Mahós Mutter, legte ihre abweisende Haltung nach und nach ab. Offenbar hatten die Worte ihres Gatten sie nachdenklich gemacht. Außerdem mochte auch sie allmählich begreifen, dass sie kein Monster vor sich hatten, wie die Propaganda sie in Kriegszeiten allzu gerne erschuf, sondern Menschen, die Moral und Zivilisiertheit besaßen.
Matt beteuerte nachdrücklich, zwar amerikanischer Staatsbürger zu sein, aber keiner Spionage oder sonstigen feindlichen Handlung nachzugehen. Vielmehr seien er, Xij und ein weiterer Freund an Japans Küste gestrandet und versuchten sich seither vor dem Militär zu verbergen – nachdem besagter Freund erst von einem Erdrutsch verschüttet und dann in die Hände von Soldaten gefallen war.
Kaito bestätigte Teile seiner Geschichte. Ob Mahós Familie ihm Glauben schenkte, vermochte Matt nicht zu sagen. Aber zunächst drehte sich ohnehin alles um Mahó. Kaito legte den Arm um seine kleine Schwester und fragte dann an Matt und Xij gewandt: »Wisst ihr, warum mein Vater vorhin von einem Wunder sprach?« Er blickte ernst drein. »Hier bei uns nimmt dieses Wort niemand vorschnell in den Mund. Der Glaube und alles, was damit verbunden ist, ist uns heilig.«
Matt nickte, schränkte aber sofort ein: »Was das Wunder angeht: Nein, wir haben keine Ahnung. Willst du es uns erklären?«
Kaito blickte fragend zu seinem Vater – offenbar, um sich zu versichern, dass nicht er die Erklärung geben wollte. Dann holte er tief Luft, drückte Mahó erneut an sich und sagte: »Das Wunder ist, dass sie euch überhaupt wahrnimmt. Für euch mag das selbstverständlich sein, für sie aber nicht.«
»Was heißt das?«, fragte Xij. »Sie ist doch nicht blind. Das hätten wir gemerkt.«
»In gewisser Weise ist sie blind. Und taub.« Kaito lächelte schmerzvoll. »Natürlich sieht und hört sie. Aber sie lebt in ihrer ganz eigenen Welt, in die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, niemand Zutritt hatte. Damit will ich sagen: Für Mahó existierten bislang nur sie selbst und ihre engsten Familienangehörigen. Den Tempel beispielsweise kennt Mahó und besucht uns oft. Aber sie ist der Meinung, dass nur wir beide, Yuuto und ich, darin leben.«
»Was ist mit den anderen Mönchen?«, fragte Xij. »Sie müssen ihr doch über den Weg laufen. Sie kann doch nicht ignorieren –«
»O doch, sie kann. Und sie tut es auch in Perfektion«, meldete sich nun Mahós Vater zu Wort. »Ein Arzt hat es uns so erklärt: In ihrem Verstand wägt meine Tochter ständig ab, ob das, was sie sieht, hört und sogar fühlt, in das Bild passt, das sie von der Welt haben will . Alles andere wird einfach ausgeblendet und durch Trugbilder ersetzt. Dabei sieht Mahó aber nicht nur angenehme Dinge. Oft wird sie auch von schrecklichen Hirngespinsten geplagt und verkriecht sich tagelang in ihrem Zimmer.«
Matts Blick wanderte zu Mahó, der es nichts auszumachen schien, dass in dieser Weise über sie gesprochen wurde. Vielleicht war ihr auch gar nicht bewusst, dass es um sie ging.
»Seit wann ist das so?«, fragte er. »Hatte sie ein traumatisches Erlebnis, das dazu führte?«
Vater, Mutter und
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