327 - Mit eisernem Willen
an einer Hüttenwand, das Gesicht ausdruckslos. Einmal schaute sie kurz zu Xij, um sich sofort wieder abzuwenden.
Als der Dicke seine Ansprache beendet hatte, begannen die Menschen zu wispern. Sie bedachten Xij mit ängstlichen Blicken, das Flüstern steigerte sich zu einem unheilvollen Gemurmel. »Ha’tuu!«, rief der Anführer. »Ha’tuu!«
»Ha’tuu!«, echote die Menge. Xij vermutete erst, dass sie ihrem Häuptling huldigten, dem Mann auf dem Stuhl. Oder doch nicht? Ihr entging nicht, dass sich Furcht wie ein Baldachin über die Menge legte, die Körpersprache und die Blicke der Menschen sprachen Bände.
Zwei Krieger traten neben sie, packten Xij und zogen sie mit sich. »Verdammt, was wollt ihr von mir?«, schrie sie und versuchte sich zu Merle umzudrehen. »Was haben die mit mir vor, Merle?« Doch sie erhielt keine Antwort. Ein Zug formierte sich, und die angebliche Freundin gesellte sich zu dem Anführer an die Spitze.
Die Stammesmitglieder stießen Xij einen staubigen Pfad entlang. Ein knorriger Baum warf verästelte Schatten auf den Weg, modrig-süßer Geruch hing in der Luft. Der Weg, auf der linken Seite von Felsen flankiert, machte einen Knick.
Die Menge teilte sich und Xij traute ihren Augen nicht. In einer natürlichen Felseinbuchtung stand ein Rechteck aus Steinplatten, verkrustet von geronnenem Blut. Ein Opferaltar?
Was das Bild aber geradezu bizarr machte, war das angegilbte Porträtfoto im Kupferrahmen, das jemand mit einer Lianenschlinge an einen Felsvorsprung gehängt hatte. Eine Frau war darauf zu sehen, blond und mit Schlafzimmerblick.
Xij kannte das Gesicht; es gehörte einer Pop-Ikone des 20. Jahrhunderts: Marilyn Monroe. Doch was hatte die Monroe mit den Blutriten eines Dschungelstamms zu tun? Wurde sie von ihnen vielleicht als Göttin verehrt?
Schließlich war sie für viele schon zu Lebzeiten eine Göttin, dachte Xij nicht ohne Galgenhumor. Dass man ihr einmal Menschenopfer darbringen würde, damit hat sie wohl nicht gerechnet.
Einige der Krieger schleppten weitere Gegenstände längst vergangener Zeiten herbei. Fassungslos sah Xij zu, wie man vor dem Anführer ein altes Grammophon aufstellte und ihm jemand einen Kreiselkompass in die Hand drückte. Es handelte sich um ein primitives Gyroskop, wahrscheinlich für Schulungszwecke gedacht.
Der Dicke hob den Kompass in die Höhe, als wäre er ein geweihter Gegenstand. Vermutlich war er das für dieses Naturvolk auch. Dann senkte er das Gyroskop und zeigte damit auf Xij. Zwei der Unsichtbaren schnappten sie und schleiften sie mit sich. Merle sah ihnen stumm dabei zu.
»Merle!«, versuchte es Xij noch einmal und wehrte sich nach Kräften. »Was soll der Scheiß? Wo bringen sie mich hin?«
Die Antwort bestand aus einem harten Schlag in ihre Rippen. Xij schrie auf und schnappte nach Luft. Die Krieger schleppten sie einige Meter weiter – wo die nächste Überraschung auf sie wartete.
Ein Bunkereingang war in der Felswand zu erkennen. Das gut ein Meter dicke Schott stand offen. Im Schleusenraum dahinter stapelten sich knöcheltief Knochen und Totenschädel. Darüber lagen Eisenketten, die an zwei eisernen Ringen im Boden befestigt waren. Getrocknetes Blut klebte an ihnen. Bei dem Anblick durchfuhr Xij ein eisiger Schreck.
Die Opferstätte! Hier also würde sie sterben.
Der Anführer trat vor. An einer Schnur um seinen Hals hing ein rostiger Schlüssel. Er nahm ihn feierlich ab, schritt zu den Ketten und öffnete die Handschellen an deren Enden. Im selben Moment wurde Xij weiter nach vorn geschoben.
Verbissen stemmte sie sich gegen den Druck, versuchte nach hinten auszutreten, aber sie hatte den Kriegern nichts entgegenzusetzen. Eine Minute später lagen die eiserenen Schellen um ihre Handgelenke. Xij zerrte wütend an den Ketten und schrie nach Merle, die aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Die Unsichtbaren warfen einen letzten Blick auf Xij, dann zog der Stamm sich zurück. Langsam gingen sie davon, eine feierliche Prozession unter heißer Sonne.
Xij war verwirrt. Wollte man ihr denn nicht die Kehle durchschneiden? Sollte sie stattdessen hier verdursten?
Das Ganze erinnerte sie frappant an einen Filmklassiker: King Kong . Nur dass sie nicht ernsthaft damit rechnete, ein Riesenaffe würde sie abholen und versuchen, ihr an die Wäsche zu gehen.
Kein Riesenaffe ... aber warum nicht ein anderes Monster?, schoss es ihr durch den Sinn. Schließlich war diese postapokalyptische Welt voll davon.
Sie unterbrach ihre Gedankengänge, als
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